Bisexualität – weit verbreitet und doch beinahe unsichtbar

Was ist Bisexualität?

Unser Bi-Blogger Ben Man achtet bei bern.lgbt darauf, dass das B in LGBTQ nicht untergeht. Der Historiker versorgt uns mit Geschichten über Bi-/Pan-Liebende. In seinem ersten Beitrag erklärt er, was Bisexualität eigentlich genau ist.


Was ist Bisexualität? Diese Frage ist scheinbar einfach und schnell zu beantworten:

«Wenn du an die Personen denkst, zu denen du dich im Lauf deines Lebens angezogen fühltest: Waren sie alle vom gleichen Geschlecht?»

Ist die Antwort Nein, ist man oder frau bisexuell. Bei diesem kurzen Check handelt es sich um eine erste grobe Auslegeordnung. Aber viele Fragen sind damit keineswegs beantwortet. Was bedeutet Anziehung? Fand ich den damaligen Schulkameraden süss oder einfach nur sympathisch? Ist die Arbeitskollegin heiss oder handelt es sich lediglich um eine spannende Frau? Selbst wenn sich herausstellt, dass das sexuelle Interesse zu beiden Geschlechtern tendiert, stellen sich sogleich neue Fragen: Wenn ich beide Geschlechter anziehend finde, soll ich sowohl mit Männern wie Frauen Sex haben? Sind Beziehungen möglich? Bin ich als Bisexuelle/r überhaupt beziehungsfähig?

«Lust und Liebe ohne Grenzen» – so bezeichnete die deutsche Zeitschrift Stern die bisexuelle Welt in einem Artikel. Damit wird suggeriert, dass Bisexuelle in paradiesischen Zuständen leben, weil sie scheinbar doppelt so viele Möglichkeiten haben wie Hetero- oder Homosexuelle. Je nach Interesse und Lebenslage könne man/frau mal mit Männlein oder Weiblein ins Bett steigen oder eine Beziehung führen. Dem kann entgegnet werden, dass wenn das Interesse zu beiden Geschlechtern besteht, keines so richtig in Betracht kommt. Damit sind wir bei grundlegenden Fragen, was Bisexualität überhaupt ist und ob beziehungsweise wie sie ausgelebt werden soll.

Der amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey kam in seinem berühmten Kinsey-Report, einer grossangelegten Sexualstudie, zum Schluss, dass rund die Hälfte der männlichen Bevölkerung sowohl homo- wie heterosexuelle Erlebnisse hatte. Wenn man die Kinsey-Skala heranzieht, die die Schattierungen zwischen ausschliesslich hetero- und ausschliesslich homosexuell zeigt, dürfte der Anteil noch höher liegen (Abbildung 1).

 

Abbildung 1: Die Kinsey-Skala (©Wikimedia)

 

Sind Menschen, die nicht eindeutig als hetero- oder homosexuell bezeichnet werden können, sich also auf der Kinsey-Skala zwischen 1 und 5 bewegen, automatisch bisexuell? Rein technisch gesehen, ja. Denn alle, die nicht als klar hetero- oder homosexuell eingestuft werden können, wären im Sinne eines Ausschlusskriteriums bisexuell. Allerdings bezeichnet sich nicht jeder und jede zweite in der Gesellschaft als bisexuell, obwohl viele Heterosexuelle gleichgeschlechtliche Erfahrungen oder zumindest Fantasien haben dürften; bei den Homosexuellen bezieht sich dies auf das andere Geschlecht. Bisexualität ist also in einem hohen Masse unsichtbar, obwohl – oder gerade weil – viele bisexuelle Neigungen haben.

Tatsache ist, Bisexualität existiert. Das legt nicht nur der Kinsey-Report nahe. Auch jüngere Untersuchungen (der Kinsey-Report ist über 60 Jahre alt) zeigen, dass viele Menschen auf sexuelle Reize beiderlei Geschlechter reagieren und sich dennoch als homo- beziehungsweise heterosexuell bezeichnen. Als bisexuell sieht sich hingegen nur ein tiefer einstelliger Prozentbereich. Woher kommt dieser Gegensatz zwischen den vielen, die bisexuell empfinden, und den wenigen, die sich als bisexuell verstehen oder gar outen?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens ist Bisexualität, anders als Homosexualität, wissenschaftlich kaum untersucht. Es gibt nur wenige Studien, die sich mit dem Thema befassen. Damit ist Bisexualität nicht wirklich auf dem Radar der Forschung. Fachleute wie Ärzte oder Psychologen erkennen Bisexualität deshalb nicht unbedingt also solche, wenn sie von Menschen besucht werden, die sich beispielsweise in einer Krise mit der eigenen Sexualität befinden. Zweitens bezeichnen sich viele Menschen, die bisexuell empfinden oder sexuelle Erfahrungen mit beiden Geschlechtern machen, als homo- oder heterosexuell. Dadurch kann man die eigene sexuelle Identität wahren und sich zu einer sozialen Gruppe zugehörig fühlen. Die Erkenntnis, dass man nicht nur ein Geschlecht, sondern mehrere Geschlechter attraktiv findet, kann verunsichern und das bisherige Sexual- und Beziehungsleben in ein neues Licht rücken. Damit ist die Angst verbunden, vielleicht viele Jahre «falsch» gelebt zu haben.

Drittens besteht die weitverbreitete Meinung, dass Menschen grundsätzlich nur auf ein Geschlecht stehen, also entweder homosexuell oder heterosexuell sind. Die Bisexualität unterläuft diese Vorstellung, da diese sexuelle Orientierung das eigene sowohl das andere Geschlecht umfasst. Viele Hetero- und Homosexuelle können sich nicht vorstellen, dass jemand beide Geschlechter attraktiv findet. Die New York Times bezeichnete Menschen, die sich als bisexuell bezeichneten, in einem provokativen Artikel aus dem Jahr 2005 sogar als Lügner. Viertens kann bei Homosexuellen die Vorstellung herrschen, dass es sich bei Bisexuellen um verkappte Schwule und Lesben handelt, die sich nicht vollständig zu ihrer Andersartigkeit bekennen können oder wollen. Nach diesem Verständnis dient die Bisexualität als «Rettungsanker», um während eines allfälligen Coming-Out eine Verbindung zur sicheren Heterosexualität aufrechtzuerhalten, bevor der Hafen der Homosexualität erreicht wird. Fünftens können sich Bisexuelle selber unter Druck setzen, indem sie von sich erwarten, sich auf ein Geschlecht festzulegen: Was bin ich überhaupt, hetero oder homo? Dass man auch bisexuell sein kann, muss einem – auch aus eigener Erfahrung – nicht sofort bewusst sein.

Bisexualität ist aber kein Rettungsanker und keine Übergangsphase. Es ist eine sexuelle Ausrichtung, die sich nicht auf ein Geschlecht konzentriert. Bisexuelle befinden sich stets ein bisschen dazwischen und sind mit ihrer sexuellen Ausrichtung und Identität laufend konfrontiert. Auch müssen sie gegebenenfalls Beziehungsformen mit sich und ihren (potenziellen) Partnerinnen und Partnern immer wieder neu aushandeln. Das sind Prozesse, der viele Jahre dauern können und vielleicht nie ganz abgeschlossen sind. Wir fühlen uns unter Umständen nirgends so richtig zugehörig, aber auch nirgends vollständig fremd. Wir können mit Frauen und Männern, auf einer sexuellen und oft auch emotionalen Ebene.

Die Abkehr vom Gedanken, dass Menschen entweder homo oder hetero sind, ist in vollem Gang. Das zeigen verschiedene Lebensarten und sexuelle Neigungen, welche zunehmend vielfältig werden und um gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen. So gibt es neben Bisexuellen auch Asexuelle, Pansexuelle und Polysexuelle, um nur ein kleines Spektrum des Regenbogens zu benennen. Schlussendlich geht es aber nicht darum, Unterschiede zwischen sexuellen Ausrichtungen zu finden und an diesen festzuhalten, sondern um das Gemeinsame und Verbindende. Oder, wie es A Great Big World in ihrem Song Everyone is Gay ausdrücken: «We’re all just looking for love to change the world.»

 

Quellen und weiterführende Informationen

Eva Kemler, Martina Löw und Kim Ritter: Bisexualität als Überschuss sexueller Ordnung. Eine biografieanalytische Fallstudie zur sexuellen Selbstwerdung. In: Zeitschrift für Sexualforschung 25/2012: 314-338.

http://www.bisexualindex.org.uk/
https://www.nytimes.com/2005/07/05/health/straight-gay-or-lying-bisexuality-revisited.html
https://www.stern.de/gesundheit/sexualitaet/vorlieben/bisexualitaet-lust-und-liebe-ohne-grenzen-3150050.html

Kommentare
  1. Jörg Lenau sagt

    Wenn das die Bisexualität beschreibt, was ist dann Ambisexualität?

    1. Ryser sagt

      Bi ist die abkürzung von ambi…

      1. Jörg Lenau sagt

        Derart erfährt es seine Anwendung, doch bedeutet ‘ambi’ ambivalent und unterscheidet sich gegenüber denjeningen, welche es nicht zu unterscheiden kennen. Der Punkt hierin ist, daß man nie die Bisexualität des ‘zu Dritt’ wissenschaftlich ergründete und man dies somit auch allgemeingültig außen vor stellt. Das dies nicht existiert, steht entsprechend auch als Kontrapunkt im Raum und die Existenz dessen ist somit keineswegs außen vor. Im Gegenteil, denn gerade über diese, klärt sich der gesamte Mißbrauch, welche man hierin praktiziert. Schließlich gelten nämlich generell diejenigen, welche nicht der Monosexualität des Heterowesens entsprechen, ‘wissenschaftlich’ als abnormal. Auch dies will man nicht haben – DARIN besteht der Kern der Bewandtnis: das Sein ist keine Frage des geistigen Wollens, sondern eine, des Willens der Handlung. Und so reguliert sich auch dies, wie alles andere darüber, was ist und dem gegenüber nicht sein kann.

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