Freiraum oder Ghetto?

Wir dürfen uns abgrenzen, aber nicht ausgrenzen.

Die Geschichte der Homosexuellen ist eine des Versteckens. Doch sind unsere Verstecke selbstgeschaffene Paradiese oder nur ein Bubble? Ludwig macht sich Gedanken zur Selbstghettoisierung und dem erschaffen von Freiräumen.

Die Geschichte der Homosexuellen ist eine des Versteckens. Weil wir kriminalisiert, gesellschaftlich geächtet und als krank bezeichnet wurden, blieben uns nur heimliche Begegnungen. Wir mussten uns Jahrhunderte hinter verschlossenen Türen treffen, uns eigene Räumen schaffen, in denen wir uns frei fühlen konnten. In diesen Freiräumen haben wir gelernt, dass unsere Gefühle nicht falsch sind. Falsch ist, wie wir von Staat, Gesellschaft und Kirche behandelt werden. Diese Einsicht führte zur Befreiungsbewegung der Schwulen und Lesben, welche Anerkennung und Gleichberechtigung forderte.

Dank dieser Bewegung bewirkten wir die Entkriminalisierung von Homosexualität. Wir mussten unsere Clubs nicht mehr verstecken. Heute wird gerne eine Regenbogenfahne vor solchen Lokalen aufgehängt, um zu signalisieren, hier sind LGBTs willkommen. Aber die Flagge sagt auch: Wenn du nicht einer von uns bist, hast du hier nichts verloren. Hierin zeigt sich ein Widerspruch: Wir fordern zwar als gleichwertige Menschen angesehen zu werden, aber gleichzeitig suchen wir die Abgrenzung. Wieso? Weil wir eben nicht gleich sind, weil wir eine Minderheit sind und angesichts der Überzahl von Heteros in dieser Welt, in der Masse verloren gehen, wenn wir uns nicht lautstark wehren. Wir brauchen Orte, an den wir unter uns sind. Böse Zungen nennen das eine Selbstghettoisierung. Laut Duden bedeutet Ghetto ein abgesondertes Wohngebiet. Tatsächlich gibt es in Metropolen ganze Strassenzüge und sogar Quartiere, in denen fast ausschliesslich LGBT-Menschen leben. Diese «Ghettos» sind aber keine tristen Gefängnisse, sondern eher wie Paradiese unter dem Regenbogen. Diese sind aber genau so trügerisch, wie zum Beispiel eine abgesicherte Wohnsiedlung für Mehrbessere. Das selbstgeschaffene Paradies lässt die Welt draussen nur umso bedrohlicher wirken. Man schliesst sich selber ein, um die «böse Welt» draussen zu halten.

Das selbstgeschaffene Paradies lässt die Welt draussen nur umso bedrohlicher wirken. Man schliesst sich selber ein, um die «böse Welt» draussen zu halten.

Die Schweiz ist zu klein, als dass wir ganze Quartier für uns beanspruchen könnten. In der Wüste der Heteronormativität haben wir uns Wohlfühloasen eingerichtet, in denen auch Trans und Inter willkommen sind. Doch diese Oasen sind nicht wirklich für alle offen. Ein Frauenraum schliesst Männer aus, und oft liest man: «Alle sind willkommen, ausser Homophobe, Rassisten und Sexisten». Schon klar, dass wir diese in unseren Clubs nicht wollen – eine Ausgrenzung ist es trotzdem. Heisst das jetzt, dass wir unser eigenes Ghetto schaffen, weil wir eine Grenze ziehen? Nein! In Neudeutsch nennt sich dies «Safe Space», also Räume in denen man sich sicher fühlen kann. Die brauchen wir, weil es Homophobie – so wie auch Trans- und Interphobie – immer noch gibt; und wenn man Pech hat, diese auch als Faustschlag im Gesicht zu spüren bekommt. Wenn HOBIT-Phobie heilbar wäre – denn sie ist eine Krankheit, nicht Homosexualität oder Transidentität – und selbst wenn neuerdings eine homophobe Aussage strafbar ist, verschwinden die sicheren Räume für LGBTs, weil es sie nicht mehr braucht? Vielleicht kommt bald die Zeit, in denen wir uns auch ausserhalb unserer Freiräume sicher fühlen. Aber es wird sie sogar dann noch geben, die Orte, an denen wir «entre nous» sind. Auch innerhalb der LGBT-Community dürfen wir uns mal abgrenzen. In einer Schwulensauna will keiner Brüste sehen und bei einer Lesbenparty darf auch mal ein Schild mit «Nur für Frauen*»  am Eingang stehen. Nicht nur wir Regenbogenmenschen brauchen solche Orte. Ein Frauenbuchclub will lieber keinen Mann ihn ihrer Gruppe haben, wenn sie über «Fifty Shades of Grey» redet, und den Heteromannen seien ihre Herrenclubs auch gegönnt. Das Abgrenzen, sich einer Gruppe zugehörig fühlen, ist ein Bedürfnis, das nichts mit Sexualität oder Geschlecht zu tun hat, sondern mit Individualität. Jedem und jeder sollte es erlaubt sein, sich die Gesellschaft auszusuchen in der er sich wohl und frei fühlt.

Das Abgrenzen, sich einer Gruppe zugehörig fühlen, ist ein Bedürfnis, das nichts mit Sexualität oder Geschlecht zu tun hat, sondern mit Individualität.

Trotzdem gilt es, sich in der «Bubble» nicht selbst wegzuschliessen – die «Bubble», also die (Seifen-)Blase, ist ein netteres Wort für Ghetto. So eine Blase bringt man glücklicherweise leicht zum Platzen; im Gegensatz zur massiven Mauer um das Ghetto. Wer ausschliesslich in seiner Bubble verkehrt, vergisst, dass es auch eine Welt ausserhalb gibt, und sollte ab und zu mit der Nadel in die Seifenblase stechen, um den Blick nach aussen frei zu machen. So eine Blase kann man ja mit etwas Puste schnell wieder blasen. Darin sind wir gut; schaffen wir doch die coolsten und buntesten Freiräume von allen! Doch die Akzeptanz der Gesellschaft erreichen wir nicht, indem wir uns selbst aussperren, sondern nur mit und in der Gesellschaft. In unseren Safe Spaces holen wir uns den Mut und die Stärke, um unsere Anliegen und unsere Bedürfnisse in die Welt zu tragen.

Fazit: Freiräume sind keine Ghettos, können aber zu solchen werden, wenn wir nicht regelmässig Türen und Fenster öffnen, um frische Luft reinzulassen. Wir dürfen uns abgrenzen, aber nicht ausgrenzen.

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