Der Historiker Philipp Hofstetter und der Journalist René Hornung haben die Biografie eines ausserordentlichen Menschen aufgezeichnet: Der 1853 im Toggenburg geborene Jakob Rudolf Forster ist wohl der erste Mann in der Schweiz, der es wagte, sich offen als «Urning» zu bekennen – so nannte man damals Homosexuelle.
Nemos Sieg am diesjährigen ESC wurde von Millionen bejubelt. Die Ernüchterung folgte jedoch auf den Fuss in Form gehässiger Debatten, unter anderem über ein sogenannt drittes Geschlecht. Dass gerade diese Frage bereits vor 150 Jahren verhandelt wurde, zeigt Philipp Hofstetters und René Hornungs historisch-biografische Einordnung «Der Urning. Selbstbewusst schwul vor 1900».
«Ihre Biografie ist eine späte Würdigung eines frühen Vorbilds. Der Protagonist selbst hätte wohl seine helle Freude daran gehabt.»
WOZ
Es geht im Buch um einen ausserordentlichen Menschen: Jakob Rudolf Forster wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in ärmlichen Verhältnissen im Toggenburg geboren, war im Alter von 15 Jahren auf sich allein gestellt und geriet früh in Konflikt mit dem Strafgesetz. «Ich liebte ihn leidenschaftlich», schreibt Jakob Rudolf Forster 1877 in sein Notizheft «Meine Geliebten». Sein «Liebhaberheft» war für die Justiz Grund genug, ihn ins Visier zu nehmen, denn er lebte seine Sexualität intensiv und offen. Unzählige Male wurde er als Selfmademan zudem für angeblich unlautere Geschäfte belangt – er wirkte u.a. ironischerweise als Heiratsvermittler, aber auch als Lebensmittelhändler und Vermögensverwalter. Der präzise dokumentierte Lebenslauf wirft Schlaglichter auf ein halbes Jahrhundert Sozialgeschichte und einschlägige Settings: Endlose Prozesse, Straf-, Korrektions-, Arbeitserziehungs-, Zwangsarbeits- und Heilanstalten, Forensik, medizinische Untersuchungen, psychiatrische Forschung und Ausschluss von politischen Rechten werden in einer Vielzahl von Archivalien sicht- und greifbar. Gerade Forsters eigene Schriften stehen auch als Zeichen der Selbstbehauptung und eines Selbstbewusstseins, das ihn heute zum perfekten Influencer werden liesse.
Die Autoren
Philipp Hofstetter wuchs im Toggenburg auf und promovierte in Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als freischaffender Historiker, Autor und Archivar in Zürich. René Hornung studierte Volkswirtschaft und arbeitet als freier Journalist in St. Gallen. Er war für zahlreiche Magazine als Redaktor und Produzent tätig. «Der Urning» ist ihre erste Zusammenarbeit und beschreibt nicht nur die aussergewöhnliche Biografie von Jakob Rudolf Forster sondern bietete zudem eine Übersicht über die gängigen Sexualtheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ohne die queeren historischen Aushängeschilder wie Ludwig II von Bayern, Magnus Hirschfeld oder Heinrich Hössli zu vernachlässigen. Insgesamt also eine packende, beinahe literarische Geschichte die uns die Gegenwart in einigen Punkten kritisch überdenken lässt.
Michael Schläfli, network Bern
Der Urning
Selbstbewusst schwul vor 1900
Philipp Hofstetter, René Hornung
384 Seiten, 133 farbige und s/w Abbildungen
CHF 44.-
Verlag: Hier und Jetzt
ISBN 978-3-03919-611-1