Die Matriarchin und ihr schwuler Enkel

«Madame» jetzt im Kino.

Der Schweizer Regisseur Stéphane Riethauser kam nicht als Mann zur Welt, er wurde einer. Mit seinem Dokumentarfilm «Madame» gräbt er in Archivmaterial und findet nicht nur seinen Werdegang, sondern auch den seiner Grossmutter Caroline. Der Film fördert die unerwartete Gemeinsamkeiten der anspruchsvollen Matriarchin und ihrs schwulen Enkels zutage.

Als Stéphane Riethauser am 90. Geburtstags seiner Grossmutter anfing, sie zu filmen, war noch kein Dokumentarfilm in Planung. Er wollte schlicht seine Oma nicht vergessen. Ihre exzentrische Art, ihr italienisches Diva-Dasein, welches auf Französisch genauso stark wirkte. Diese Frau, die genau wusste, was sie wollte. Sie, die sich immer wieder emanzipierte, um ihren eigenen Weg zu gehen.

Neben seiner Grossmutter Caroline besetzt Stéphane Riethauser die zweite Protagonistenrolle selbst. Zensurfrei schildert er, wie er als Junge die Welt gesehen hat. Er wusste genau, wie ein Mann zu sein hatte, was männlich sein bedeutete. Studium. Militär. Karriere. Heirat. Familie. Sein Lebensweg schien bereits in Stein gemeisselt, mit all den Privilegien, wie sie nur ein männlicher Erbe der Bourgeoisie haben konnte. Bildung. Entscheidungsfreiheit. Ansehen. Männer sind zuständig für Recht und Ordnung, Frauen hingegen sind grazil, elegant, ideale Mütter.

 

Es ist nicht alles, wie es scheint

Doch immer wieder bemerkte Stephane Riethauser Dinge, die nicht in dieses Bild passten, wie er nicht in dieses Bild passte. Die Mädchen in der Schule interessierten ihn wenig, sein bester Freund hingegen weckte Unbekanntes. Doch starke Gefühle als Liebe oder sexuelle Anziehung zu bezeichnen, dass geht nur zwischen Mann und Frau. Er war schliesslich keine Schwuchtel. Das wäre das Schlimmste.

Stéphane Riethauser studierte Rechtswissenschaften, organisierte Podiumsdiskussionen und gab alles daran, seinem eigenen Bild der Männlichkeit zu entsprechen. Er rutschte politisch immer weiter nach rechts, je mehr er sein Schwulsein zu verdrängen versuchte: Als Ruth Dreifuss Bundesrätin wurde und darauf bestand, dass betont die weibliche Form «Chefe» für ihr Amt verwendet werde, schrieb Stéphane Riethauser einen wütenden Leserbrief, welcher auch gedruckt wurde.

Dass es zu seinem Coming out kam, dafür musste Stéphane Riethauser sein klares Bild der Welt niederreissen und sich der Ungewissheit seines neuen, noch ungeordneten Lebens stellen. Er musste Geschlechterklischees hinterfragen. Vor allem musste er aber seine eigene, wahre Identität finden, genau wie seine Grossmutter. Das gleiche patriarchalische System beschränkte sie beide und verband sie zugleich.

 

Leben ist nicht gleich Film. Und doch…

Wie Riethauser mehrmals betont: Alles, was gezeigt und gesagt wird, ist wahr. Doch man müsse bedenken, das ganze Leben seiner Grossmutter und einen grossen Teil seines eigenen Lebens in 90 Minuten zusammenzufassen, und dabei eine Geschichte zu erzählen, das verlange nach Kürzungen, nach Vereinfachungen. So wurden die Menschen mit der Zeit zu Kunstfiguren, die Komplexität des Lebens zu einer Storyline. Viele kleine und grosse Dinge gingen im Prozess verloren. Doch das ist ein kleiner Preis für eine Geschichte, welche eben nicht nur die Menschen in ihr portraitiert, sondern ganze Gesellschaften und die Zeit selbst. Die Geschichten von Stéphane Riethauser, seiner Grossmutter Caroline und ihrer Beziehung zueinander bilden ein Schlüsselloch, durch welches wir einen humorvollen und gleichzeitig teils schmerzhaft authentischen Einblick in die Auswirkung von Vorurteilen und Stereotypen bekommen. Es geht nicht mehr «nur» um die einzelnen Geschichten, sondern um ein grosses kollektives Bewusstsein, das im Umbruch ist. Stéphane Riethauser beleuchtet diesen Umbruch in einer filmisch meisterhaften Art: Amusement, Wut und Vergeben überschneiden sich in Bild und Ton, der Inhalt geht nahe und betrachtet gleichzeitig aus der Distanz. Und auch wenn vielleicht die einzelnen Bilder des Films mit der Zeit aus der Erinnerung verblassen werden, dieses Gefühl des Umbruchs, das bleibt.


«Madame»

CH 2019
Regie: Stéphane Riethauser
https://madamefilm.com

Jetzt im Kino!

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