Sandro (er/keine) arbeitet für die Aids-Hilfe Schweiz, das Transgender Network Schweiz TGNS und hat den Trans Safety Emergency Fund mitbegründet. Erwachsen geworden ist Sandro in der Ballroom-Kultur und tritt unter dem Namen Helio auch als Father des House of B. Poderosa auf. Dementsprechend probiert sich Sandro selbst gerne mit verschiedenen Gender Expressions aus. Julia Grell vom HAZ-Magazin hat sich mit Sandro als transmaskuline und genderqueere Person über Geschlechtsidentität und das Spiel mit Normen und Erwartungen unterhalten.
Wie würdest du jemandem Gender Expression erklären, der damit noch nicht vertraut ist?
Ich würde sagen, dass Gender Expression der Ausdruck von Geschlecht ist. Da spielen verschiedene Faktoren rein: Als Gesellschaft ordnen wir eine Person direkt in ein Geschlecht ein, je nach Frisur, Kleider, wie sie sich bewegt oder welche Beziehung sie führt. Gender Expression ist auch, wie man der eigenen Geschlechtsidentität Ausdruck verleiht. Je nach Geschlecht kann das Äussere angepasst werden. Ich persönlich passe meine Expression auch je nach Interaktion an. Für mich ist das die Repräsentation meines Selbst. Mein Gegenüber soll mich angucken und sehen, was für mich stimmt. Das kann Hand in Hand gehen oder sich beissen. Entweder erfülle ich als transmaskuline Person die Geschlechtererwartungen meines Gegenübers mit maskuliner Kleidung. So kann ich auch eine gewisse Hilfe leisten in der Erkennung. Ich kann mich aber nach Lust und Laune auch feminin kleiden und das Gegenüber mit meiner Geschlechtspräsentation verwirren.
Verändert sich deine eigene Gender Expression abhängig von den Umgebungen, in denen du dich befindest?
Der Sicherheitsaspekt ist für mich ein wichtiger Faktor und beeinflusst meine Gender Expression. Auch ist ausschlaggebend, wie viel Energie ich darauf verwenden kann, mich anderen gegenüber als genderqueer zu präsentieren und zu erklären. Manchmal habe ich als einzige trans Person im Raum dazu keine Lust. Dann habe ich persönlich das Privileg, gut als Mann erkannt zu werden. Manchmal kann es aber auch lustig sein, mit den Erwartungen anderer zu spielen. Dann müssen sie sich mit ihrer eigenen Gender Expression und Erwartungen auseinandersetzen. Meine Gender Expression kann sich immer ändern, sie kann etwas Unsicheres und Chaotisches sein. Sie hat aber hat auch etwas von Selbstfürsorge. Ich finde, sich Zeit zu nehmen, sich mit der eigenen Identität zu befassen, kann liebevoll und weich sein.
«Meine Gender Expression kann sich immer ändern, sie kann etwas Unsicheres und Chaotisches sein. Sie hat aber hat auch etwas von Selbstfürsorge.»
Inwieweit ist deine Geschlechtsidentität mit deiner Gender Expression verbunden?
Ich hatte lange die Haltung, dass ich meine jetzige Gender Expression nie gehabt hätte, hätte ich nicht den Weg zu meiner Geschlechtsidentität gemacht. Ich glaube heute, dass ich sowieso zur gleichen Geschlechtsidentität gekommen wäre, auch wenn ich meine Genderpräsentation nicht so offen und frei ausleben könnte. Manchmal kann es zwischen Identität und Ausdruck weite Distanzen geben und dann doch wieder enge Verbindungen. Sich immer wieder mit der Gender Expression auseinanderzusetzen hilft, über die eigene Geschlechtsidentität nachzudenken. Das kann bestärkend und verunsichernd sein. Geschlechtsidentität und Gender Expression sind für mich verwoben, aber nicht voneinander abhängig.
Welche Rollen spielen gesellschaftliche Normen und Erwartungen bei der Gestaltung deiner Gender Expression?
Normen spielen generell eine grosse Rolle. Man setzt sich gezwungenermassen damit auseinander, weil auch Gender eine Norm ist, die geschaffen wird. Für mich ist die Gender Expression ein Spiel mit alten Normen und die Erschaffung von neuen. Je nachdem, ob es für mich Vorteile gibt, erfülle ich die Geschlechtserwartungen und normen, die man an mich als transmaskuline Person stellt. Interessanterweise gibt es Normen und Erwartungen auf zwei Seiten: Einerseits sind da die Erwartungen, die an eine männlich präsentierende Person gestellt werden von der cisheteronormativen Seite. Andererseits gibt es aber auch in queeren und linken Räumen eigene Erwartungen, wie trans oder genderqueer auszusehen hat. So werden auch neue Geschlechternormen geschaffen. Deswegen finde ich wichtig, dass die LGBTQIA+ Community, aber auch Allies, sich nicht auf die Narrative verlassen, dass gewisse Genderpräsentationen auf spezifische Art und Weise gezeigt werden. Es ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber queere und linke Menschen schubladisieren genauso wie die Gegenseite, der sie genau das vorhalten. In diesen Spaces ist genderqueer häufig feminin konnotiert. Dementsprechend kann es schlechter ankommen, wenn ich beispielsweise mit traditionell männlichen Eigenschaften und Erscheinungsformen spiele. Männlichkeit ist generell in queeren Spaces eher negativ konnotiert. Aber genderqueeres Auftreten hat ja mit weder noch und/oder der Verbindung von beidem zu tun.
«Es ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber queere und linke Menschen schubladisieren genauso wie die Gegenseite, der sie genau das vorhalten.»
Merkst du in deiner eigenen Arbeit, im Alltag oder der Ballroom-Performance, dass je nach Gender Expression anders mit dir umgegangen wird?
Absolut. Da kann ich auch das Trottoir-Beispiel anbringen: Auf der Strasse ist meistens allen ganz unausgesprochen klar, wer, wem ausweicht (Frauen weichen Männern viel häufiger aus). Bei cis Männern beobachte ich das manchmal. Die sehen mich und sehen einen schwulen Mann und treffen somit ihre Entscheidung und laufen einfach drauflos, so wie sie es immer tun. Ältere Männer sehen eine Frau und sagen Entschuldigung. Mit einer weiblichen Präsentation wird viel höflicher mit mir umgegangen. Als Mann werde ich viel schneller zum Experten für etwas und somit auch ernster genommen. Bei den Performances ist das auch eine spannende Sache: Die queeren Räume, in denen ich auftrete, sind von schwulen cis Männern dominiert. Sie suchen entweder Hypermaskulinität oder die Drag Queen. Beides biete ich nicht und das wird für mich schnell unspannend. Das zeigt für mich: Die Leute können mit genderqueer nichts anfangen. Was kann man auf einen Körper mit Vulva projizieren, wenn er nicht sexualisiert wird? Ich sehe Gender Expression und so wie sie aufgefasst wird, auch als Sexualisierungsskala. Das Feminine wird dabei viel eher sexualisiert, aber dann paradoxerweise auch wieder kritisiert? Auch das Maskuline wird kritisiert. Genderqueering fällt zwischen die Stühle. Man kann es nie allen recht machen. Da kommt dann die Kritik, dass man dich nicht einordnen kann. Aber warum sollte ich versuchen, es anderen recht zu machen, wenn es eh doch ein Ding der Unmöglichkeit ist? Meine Gender Expression ist für mich.
Brauchen wir Gender überhaupt? Wenn ja, wie und wofür?
Das Ideal wäre ja, ohne Kategorien auszukommen, aber unser Gehirn funktioniert nun mal nach Kategorien. Aktuell ist es eine Illusion, ohne Gender zu leben. Ich finde, es ist auch eine schlechte Illusion. Gender gibt vielen Menschen Halt in ihrer Identität. Sie können so verschiedene Aspekte ihres Lebens einordnen. Kategorien geben Sicherheit und Leitlinien. Das kann besonders für trans Personen der Fall sein. Sie können so das normative Mann oder Frausein entdecken. Im Prozess davon können sie aber auch für sich auswählen, was passt und was nicht. Diese Böxli können dementsprechend auch gesprengt werden, wenn man das möchte. Das Problem entsteht viel eher bei der Hierarchisierung der Kategorien und der Stereotypisierung. Ich finde, dass alle Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich mit Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen. Oftmals sind cis Menschen in Diskussionen mit mir ganz überrascht: «Ich habe ja auch ein Geschlecht!» Gender braucht mehr Raum, und die Menschen brauchen die Sprache dafür.
Das Interview führte Julia Grell vom HAZ Magazin
Was ist eigentlich…
Gender: Darunter versteht man meistens das soziale Geschlecht, so wie mensch es nach aussen präsentiert. Gender kann separat vom biologischen Geschlecht definiert werden. Der Feminismus ab den 1970er Jahren prägte vor allem die Unterscheidung sex (biologisch) und gender (kulturell, gesellschaftlich).
Geschlechtsidentität: Inneres Bewusstsein einer Person, welches Geschlecht sie hat. (TGNS)
trans: Von einer trans Person spricht man, wenn das innere Wissen, welches Geschlecht die Person hat (Geschlechtsidentität), nicht oder nicht vollständig mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. (TGNS) nonbinär: Eine Person, die sich nur teil weise oder gar nicht in den binären Kategorien von männlich/weiblich bewegt, wird als nonbinär bezeichnet. Non Binarität beschreibt ein breites Spektrum an unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten. Diese können sich auch im Laufe der Zeit oder je nach Situation ändern. (gendern.ch)
cis: Menschen, deren Geschlechtsiden tität mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, überein stimmt. (TGNS)
Gender Expression: Das ist die äussere Erscheinung einer Person, ihre Darstellung von Geschlecht, zum Beispiel durch Kleidung, Frisur, Makeup, Sprache, Verhalten, Namen oder Pronomen. Die Gender Expression und Geschlechtsidentität können, aber müssen nicht übereinstimmen. (Sexuelle Gesundheit Schweiz)
Genderqueer: Das bedeutet, Geschlecht als Kategorie zu hinterfragen. Gender queer ist ein Überbegriff für Menschen, die nicht in die geschlechterbinäre Norm passen. Es kann aber auch die Geschlechtsidentität von Menschen beschreiben, die sich sowohl als Frau und Mann (gleichzeitig oder abwechselnd) oder weder als Frau noch als Mann identifizieren. (Queer Lexikon)
Ich habe die Ehre und Freude, Sandro’s Metarmorphose ein Stück weit als Freund begleitet haben zu dürfen.
Den Artikel habe ich mit großem Interesse und Sympathie für Sandro’s Authentizität gelesen.
Ich hoffe, er kann mit seinem sozialen Engagement wegweisend für die Entwicklung einer liberaleren vielfältigeren Gesellschaft sein.
Weiter so !!!