
Der naturverbundene Romantiker und der scharfzüngige Dandy
Walt Whitman und Oscar Wilde
Zwei schwule Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch haben beide auf ihre Art viel zum Selbstverständnis von Homosexuellen beigetragen. Der Amerikaner Walt Whitman (1819-1892) und der Irländer Oscar Wilde (1854-1900).
Walt Whitman würde man heute als esoterische, naturliebende Politschwester bezeichnen, die von einer besseren Welt träumt. Oscar Wilde hingegen war der Prototyp der scharfzüngigen Tunte, die es verstand, mit Worten auf gesellschaftliche und moralische Missstände hinzuweisen. Beide waren schwul in einer Zeit, als es die Worte «schwul» oder «gay» noch gar nicht gab, und beide litten darunter, sich nicht ausleben zu können, weil es damals schlicht verboten war.
Walt Whitman
Der Dichter Walt Whitman wurde 1819 auf Long Island, New York, geboren. Als 12-Jähriger absolvierte er in Brooklyn eine Lehre als Schriftsetzer und arbeitet dann in verschiedenen Druckereien. In seiner Freizeit las er die Werke von Homer, Dante und Shakespeare. Er wollte auch ein Schriftsteller werden. Mit 17 zog er zurück nach Long Island, arbeitete als Lehrer, gründete die Zeitung Long Islander und begann mit dem Schreiben von Gedichten. Mit 30 zog er nach Brooklyn zurück, wo er als Wohnungsmakler tätig war. So konnte er sich seine erste Veröffentlichung finanzieren, den Gedichtband «Leaves of Grass» (Grashalme), den er in den folgenden Jahren immer wieder erweiterte und neu veröffentlichte.

In seiner Lyrik thematisierte Whitman die Schönheit der Natur, die Individualität und die Demokratie seines Landes. Er verhandelte in seinen Texten die Gleichberechtigung der Geschlechter und bisexuelle Neigungen. Dafür wurde er vehement kritisiert. Weitere Themen, die in Whitmans Leben und Werk eine Rolle spielen, sind Homosexualität und Autoerotik. Diese Themen nehmen verschiedene Formen an, von seiner Bewunderung des im 19. Jahrhundert vorherrschenden Ideals der Männerfreundschaft bis hin zu erotischen Beschreibungen des (eigenen) männlichen Körpers («Song of Myself»).
«I will go to the bank by the wood and become undisguised and naked, I am mad for it to be in contact with me.»
Walt Whitman, Song of Myself (1892)
Als er öffentlich mit diesem Thema konfrontiert wurde, lehnte er die Masturbation wütend ab und lobte die Keuschheit. Die heutige Literaturwissenschaft nimmt jedoch an, dass er in seinen Werken seine wahren Gefühle zum Ausdruck gebracht hat und dass seine öffentlichen Äusserungen durch seine homophobe Umwelt geprägt waren.
War Walt Whitman nur ein einsamer Wichser? Nein, er hatte durchaus auch Liebhaber. Dank vielen Liebesbriefen aus seiner Hinterlassenschaft sind diese Liebschaften gut dokumentiert. Einer seiner wichtigsten Gefährten war der Strassenbahnschaffner Peter Doyle. Sie lernten sich 1870 kennen, in einer «kalten, stürmischen Nacht». Walt war der einzige Gast in der Strassenbahn; und so kamen ins Gespräch. Für den damals 51-jährigen Walt war der 24 Jahre jüngere Mann auch eine musische Inspiration. Ihre intime Beziehung dauerte mehr als zehn Jahre, doch sie blieben bis zu Whitmans Tod in Kontakt und machten regelmässig gemeinsame Wanderungen und Spaziergänge.
Im Jahre 1882, 10 Jahre vor Walt Whitmans Tod, besuchte ihn Oscar Wilde, der damals auf eine Lese-Tournee durch Amerika war. Nach dem Besuch schrieb Wilde an den Homoaktivisten George Cecil Ives, dass es keine Zweifel über Whitmans sexuelle Orientierung gebe. «I have the kiss of Walt Whitman still on my lips», behauptete er.
Oscar Wilde
Oscar Wilde wurde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren. Weil beide Elternteile geschrieben haben, kam er schon früh mit der Schriftstellerei in Kontakt. Mit 17 begann er klassische Literatur zu studieren. Mit 20 gewann er ein Stipendium, mit dem er vier Jahre lang in Oxford studieren konnte. Bereits in dieser Zeit fiel er durch seinen scharfsinnigen Humor und seine Schlagfertigkeit auf. Nach Abschluss des Studiums zog er nach London, wo er bald Erfolge als Schriftsteller hatte, mit Kunstmärchen, dem Roman «Das Bildnis des Dorian Gray» (1891) und vor allem mit seinen Theaterstücken, wie «Salome» (1891), «An Ideal Husband» (1895) und «The Importance of Being Earnest» (1895), die heute noch aufgeführt werden. Im prüden viktorianischen England war er als Skandalautor und Dandy verschrien. Er war aber auch bekannt für seine Sprachgewandtheit und sein extravagantes Auftreten.
1893 wurde der erotische Roman «Teleny» veröffentlicht, allerdings anonym und in einer Auflage von nur 200 Exemplaren. Doch es wird vermutet, dass er von Oscar Wilde geschrieben wurde. Das schmale Buch erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem französischen Dandy Camille und dem ungarischen Pianisten René (Teleny), und wie diese Liebe an den gesellschaftlichen Repressionen zerbricht. Der Roman ist ziemlich pornografisch, weshalb es Oscar Wilde nicht möglich war, ihn unter seinem Namen zu publizieren. Erst 1986, also mehr als hundert Jahre später, wurde das Buch unzensiert unter seinem Namen veröffentlicht.
«Moral grounds are always the last refuge of people who have no sense of beauty.»
Oscar Wilde, The Truth Of Masks (1885)
Gerade 30 geworden heiratete Oscar Wilde. Mit seiner Frau Constance Lloyd zeugte er zwei Söhne. Der Familienvater ging für die damalige Zeit relative offen mit seiner Homosexualität um. Seine schwulen Beziehungen waren nicht unbekannt und Gegenstand von Klatsch und Tratsch. Sein langjähriges Verhältnis zu Lord Alfred Douglas, genannt Bosie, führte aber zu einem gesellschaftlichen Skandal und zu Wildes Niedergang. Der Vater von Bosie bezichtigte ihn der Sodomie. Wilde wollte sich vor Gericht wegen Verleumdung wehren, wurde aber dadurch selbst zum Angeklagten. Es kam ans Licht, dass er sexuellen Umgang mit Männern aus der Unterschicht hatte, auch mit Strichern. Bosies Gedicht «Two Loves» wurde im Prozess gegen Wilde verwendet. Das Gedicht endet mit der Zeile: «the love that dare not speak its name», eine Umschreibung der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Männern. 1895 wurde Wilde wegen Unzucht zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt. Die harte Arbeit ruinierte die bereits angeschlagene Gesundheit des Dandys.

Als Oscar Wilde aus der Haft entlassen wurde, flüchtete er vor der gesellschaftlichen Ächtung nach Paris. Noch einmal traf er sich mit seinem ehemaligen Geliebten Bosie, um sich von ihm endgültig zu verabschieden. Völlig mittellos und vereinsamt verstarb Wilde drei Jahre später in seinem Hotelzimmer an einer Hirnhautentzündung, den Spätfolgen einer Syphilis. Nie um einen guten Spruch verlegen, waren seine angeblich letzten Worte: «Entweder geht diese scheussliche Tapete – oder ich».
Wie Walt und Oscar unsere Gegenwart prägen
Oscar Wilde und Walt Whitman beeinflussten das Bild von Schwulen in der Öffentlichkeit. Sie prägten Stereotypen des homosexuellen Mannes. Wilde zeichnete das Bild des flamboyanten Schwulen mit scharfer Zunge und bissigem Humor, der sich für Schönes begeistert wie Kleidung und Dekoration. Einen Typus, den wir heute in der Drag-Kultur und bei vielen queeren Social-Media-Persönlichkeiten wieder finden. Walt Whitman hingegen war der naturverbundene Romantiker, der sich aus eigenem Empfinden gegen Unterdrückung und Ausgrenzung wehrte und sich für Selbstakzeptanz stark machte. Seine Persönlichkeit lebt weiter in politisch aktiven Schwulen, die gerne Wandern oder bei einer queeren Sportgruppe mitmachen. Schön ist, dass nach diesen beiden schwulen Männern aus dem 19. Jahrhundert weiter folgten, welche diese beiden Stereotypen ergänzten und erweitertet, so, dass es heute möglich ist, ein vielschichtiges Bild von homosexuellen Männern zu zeichnen. Doch etwas von Walt und Oscar lebt auch heute in uns weiter.
Walt Whitman 1819-1892
wikipedia.org/wiki/Walt_Whitman
Oscar Wilde 1854-1900
wikipedia.org/wiki/Oscar_Wilde