«Es geht um das Begehren, das alle Grenzen sprengt»

Ab 5. Mai 2022 im Kino

Die Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet erzählt von ihrem ersten Spielfilm. Die romantische und rasante Komödie «Les Amours d’Anaïs» stellt frisch und frech die Liebe und ihrer Konventionen in Frage. Ab 5. Mai 2022 im Kino.

Anaïs, jung und rastlos, ist wieder knapp bei Kasse. Sie hat einen Freund, weiss aber nicht, ob sie ihn noch liebt. Auf einer Party verliebt sich der Verleger Daniel Hals über Kopf in die quirlige Frau. Doch Anaïs hat nur Augen für seine Frau Emilie, eine berühmte Romanautorin. «Les Amours d’Anaïs» ist der erste Spielfilm der jungen Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet. Die Gala findet den Film «eine sprudelnde, sehr schwungvolle und lustige romantische Komödie» und 20 Minutes schreibt: «er bringt einen frischen, frechen Wind und eine offene Sicht auf die Liebe und das Begehren mit sich».

Dank Isabelle Huppert zum Film gefunden

Charline Bourgeois-Tacquet

Als sie mit 14 Jahren zum Fan von Isabelle Huppert wurde, und deshalb alle ihre Filme anschaute, wurde die Französin Charline Bourgeois-Tacquet zur Filmliebhaberin. 2016 durfte sie sogar in einem Film {«L’Avenir») mit ihrer Heldin mitspielen. Noch während ihres Literatur-Studiums an der Sorbonne entschloss sie sich Regisseurin zu werden. Sie begann bescheiden. «Ich habe mit selbst produzierten, sehr handgemachten Filmen angefangen, in denen ich selbst mitgespielt habe. Das hat mich viel gelehrt.» Mit dem komischen Kurzfilm «Pauline asservie» hat sie 2018 in Cannes einen ersten Erfolg. In diesem Film wurde Pauline von Anaïs Demoustier gespielt, die jetzt auch in ihrem Spielfilmdebüt die Hauptrolle spielt. «Wir hatten so viel Spass mit Pauline, dass wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen wollten. Als ich das Drehbuch zu «Les Amours d’Anaïs geschrieben habe, habe ich dabei ständig an sie gedacht.» Auch wenn sich die Rollen der Pauline und der Anaïs gleichen sind sie doch unterschiedlich. «Beide sprechen sie viel und schnell, ohne immer auf ihr Gegenüber oder die Fragen, die man ihr stellt, Rücksicht zu nehmen. Aber Anaïs hat eine Tiefe, die Pauline nicht hatte.»

Jede Gelegenheit nutzen, um glücklich zu sein

Anaïs ist eine rastlose junge Frau, die ihren Trieben und Impulsen folgt. Sie lebt in der Gegenwart, ohne sich Fragen zu stellen und ohne zu projizieren. «Man könnte meinen, dass sie dadurch egoistisch ist, aber meiner Meinung nach ist sie einfach ein Mädchen, das sich der Zerbrechlichkeit des Lebens stark bewusst ist und beschlossen hat, jede Gelegenheit zu nutzen, um glücklich zu sein» sagt Charline Bourgeois-Tacquet über ihre Hauptfigur. «Ich mag ihre Vitalität, ihre Kühnheit. Ihr Geliebter Raoul nennt sie einen Bulldozer und es stimmt, dass ihre kämpferische Art für ihre Umgebung etwas Gewaltsames haben kann. Aber egal, ob es sich um ihre Abtreibung oder die Krankheit ihrer Mutter handelt, sie bemitleidet sich selbst nicht mehr als andere. Sie macht weiter, ohne jemals stehen zu bleiben, denn das ist ihre Art zu überleben, mit den Widrigkeiten umzugehen. Wenn sie sich die Zeit nehmen würde, nachzudenken und zu beobachten, was mit ihr geschieht, würde sie zusammenbrechen.

Die Heldin des Films ist dreissig Jahre alt und steht an einem Scheideweg. «Ein sehr beängstigendes Alter», findet die Regisseurin. «Es ist der Moment, in dem alle entscheidenden Entscheidungen getroffen werden müssen: welcher Beruf? welches Liebes- oder sogar Eheleben? mit oder ohne Kinder? Wenn Sie eine Frau sind, haben Sie zehn Jahre Zeit, um alles gleichzeitig aufzubauen, denn danach ist es zu spät … Ich habe grosse Schwierigkeiten mit der etwas heroisierten Figur der modernen Frau, die sich in einem lohnenden Beruf, mit einem idealen Partner und tollen Kindern verwirklicht. Ehrlich gesagt erscheint mir das unwahrscheinlich und völlig unerreichbar. Im Gegensatz dazu wollte ich eine komplexe junge Frau porträtieren, die in den materiellen und existenziellen Schwierigkeiten gefangen ist, die für ihr Alter und ihre Zeit typisch sind. Eine junge Frau, die (sich) sucht.»

Rasante Sinnlichkeit in der Natur

Entsprechen der Neigung Anaïs’ zur Logorrhoe, also zum viel und schnell sprechen, hat Bourgeois-Tacquet zusammen mit ihrer Cutterin Chantal Hymans den Films sehr rasant geschnitten. «Ich hasse es, mich im Kino zu langweilen. Folglich habe ich auch Angst davor, meine Zuschauer:innen zu langweilen. Deshalb wollte ich, dass es rast.» Ein weiteres grosses Thema im Film ist das Begehren und die Sinnlichkeit. Als Anaïs sich in die Romanautorin Émilie (gespielt von Valeria Bruni Tedeschi) verliebt, weiss sie selbst nicht, was sie zu dieser Frau treibt. Es ist eine Neugier, eine etwas blinde Anziehung, ein Verlangen, sich ihr zu nähern. «Ich hatte Lust, diese etwas magische Kraft des Verlangens zu erforschen, die so zwingend und geheimnisvoll ist. Zwischen Anaïs und Emilie entsteht ein erotisches Verlangen, ein unvorhergesehenes und überwältigendes körperliches Verlangen.» Um die Sinnlichkeit und die Erotik zu unterstreiche, wurde der Film grösstenteils in der Natur (in der grünen Landschaft, am Meer) und im natürlichen Licht des Sommers gedreht. «Es gibt eine Art Beruhigung, die von der Landschaft ausgeht. Ich mag es, mich daran zu erinnern, dass die Bäume, der Ozean und die Elemente uns überleben werden. Das ist schwindelerregend und beruhigend. Im Film ist dieser Frieden der Natur wie ein Kontrapunkt zu Anaïs’ Qualen und Aufregungen.»

Anaïs und Valeria – ein Wunder der Komplementarität

Dass Anaïs Demoustier die gleichnamige Hauptfigur spielen wird, war von Anfang an klar. Doch die Regisseurin brauchte für die Figur der Emilie eine Schauspielerin um die 50, die schön und sinnlich ist und gleichzeitig glaubwürdig als Intellektuelle und Schriftstellerin auftreten kann. «Ich musste nicht lange überlegen, um an Valeria Bruni Tedeschi zu denken.» Doch die ist ein grosser Star im französischen Kino und bestimmt nicht leicht zu haben für den Debütfilm einer jungen Regisseurin. Nachdem diese das Drehbuch erhalten hatte, hinterliess sie Bourgeois-Tacquet eine Nachricht, die überhaupt nicht erkennen liess, ob ihr das Projekt gefallen hatte oder nicht. «Als ich sie zurückrief, erzählte sie mir von ihren Eindrücken, sie sagte sehr viel Gutes über die Figur, das Drehbuch, die Geschichte und die Dialoge, aber sie sagte mir nicht, ob sie das Projekt annehmen würde! Als ich sie schliesslich fragte, sagte sie: ‹Mais oui, bien sûr›, und ich wäre vor Freude fast in Ohnmacht gefallen.» Die Regisseurin findet das Zusammenspiel der beiden Schauspielerinnen ein Wunder der Komplementarität. «Anaïs, virtuos, sehr präzise, mit einem angeborenen Sinn für Rhythmus und Raum, und Valeria mit einer grossen Hingabe und der Fähigkeit mit einem einzigen Blick zu durchdringen, die eine Mischung aus Zerbrechlichkeit und Kraft ausdrückt – so viel zum Höhepunkt der Sinnlichkeit.»

Doch im Film gibt es auch Männer. «Ja, es gibt viele Männer um Anaïs herum! Da ist Daniel, der Verleger, der mit Emilie liiert ist und eine Affäre mit Anaïs haben wird. Er ist sowohl der Archetyp des bürgerlichen Mannes, der von seinem Recht überzeugt ist, als auch ein Mann, der durch seine Naivität, seine Zerbrechlichkeit und seine Ungeschicklichkeit rührend ist. Anaïs’ erster Verlobter Raoul ist dagegen der Vernunftmensch, in gewisser Weise ein Relais des Zuschauers innerhalb des Films: Er hat einen klaren Blick auf die Figuren. Anaïs’ jüngerer Bruder Balthazar fungiert eindeutig als komödiantischer Kontrapunkt: Er ist so lyrisch wie Anaïs überdreht ist. Und schliesslich ist da noch die Figur des Yoann, der Junge für alles.»

«Mein Film erzählt nicht von der Bekehrung einer jungen Frau zur Homosexualität»

Zwar geht es in «Les Amours d’Anaïs» um eine verrückte Liebe, die eine junge Frau und eine reife Frau verbindet. Doch Charline Bourgeois-Tacquet wollte auf keinen Fall einen ‹spezialisierten› Film machen. «Mein Film erzählt nicht von der Bekehrung einer jungen Frau zur Homosexualität. Auch wenn dieses neue Verlangen Anaïs verunsichert, stellt sie sich nie die Frage nach ihrer sexuellen Orientierung. Und ich beanspruche für mich, dass dies kein Thema ist, in einer Zeit, in der die Menschen sich endlich erlauben, anders zu lieben. Es geht nur um das Begehren, das alle Grenzen sprengt, die der Geschlechter­zuweisungen, die der sozialen Codes und auch die der Altersunterschiede. Die Geschichte von Anaïs und Emilie ist die Erzählung einer atomaren Begegnung zwischen zwei Individuen. Eine Geschichte der Liebe und des Begehrens, die auch über den Geist und die Intelligenz läuft.»

Die letzte Zeile des Films ist sehr schön: «Je ne suis pas d’accord» (Ich bin nicht einverstanden). Womit ist Charline Bourgeois-Tacquet nicht einverstanden? «Oh, mit allem! Leben ist ein Problem, die Welt ist ein Problem … Aber wenn ich eine einzige Antwort geben soll, dann sage ich, dass ich mit Angst und Resignation nicht einverstanden bin. Ich denke wie Anaïs (und wie die Schriftstellerin Annie Ernaux): Auf eine Leidenschaft zu verzichten, wäre kriminell, wäre eine Beleidigung des Lebens.»

Das dem Test zugrundeliegende Interview wurde von Gérard Lefort im Mai 2021 geführt.


Les Amours d’Anaïs

Frankreich 2021
Drehbuch und Regie: Charline Bourgeois-Tacquet
Kamera: Noé Bach
Schnitt: Chantal Hyman
Cast:
Anaïs, Anaïs Demoustier
Emilie, Valeria Bruni Tedeschi
Daniel, Denis Podalydès
Yoann, Jean-Charles Clichet
Balthazar, Xavier Guelfi
Raoul, Christophe Montenez

Ab 5. Mai 2022 im Kino

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