Coming out im Alter – «Ein Krimi der Sitten»

«Deux» von Filippo Meneghettis ab 19. August im Kino

Madeleine und Nina haben genug davon, so zu tun, als wären sie nur nette Nachbarinnen. Sie wollen nach Rom fliehen wo «wir sein können, wie wir wollen». Doch mit über Siebzig ist ein Coming out keine leichte Sache. «Deux» mit Martine Chévallier und Barbara Sukowa in den Hauptrollen ist das Spielfilmdebüt von Regisseur Filippo Meneghettis. Ab 19. August im Kino.

Für sein Spielfilmdebüt «Deux» konnte der Regisseur Filippo Meneghettis zwei Schauspielerinnen verpflichten, die sehr unterschiedlich sind, aber auf eine lange Karriere zurückblicken können: die grosse französische Theaterschauspielerin Martine Chévallier von der Comédie Française und die deutsche Filmschauspielerin Barbara Sukowa, eine Ikone des unabhängigen Kinos. Beide Frauen wurden für ihre Darbietungen in «Deux» mit dem Prix Lumières 2021 als Beste Schauspielerinnen ausgezeichnet. «Ich wollte mit Schauspielerinnen arbeiten, die sich mit ihrem Alter wohlfühlen», erklärt der Regisseur seine Wahl. «Mir gefiel die Idee, dass jede Figur durch das Talent, aber auch durch die Geschichte der Person, die sie spielt, genährt wird.»

Chévallier und Sukova spielen Frauen die den 70. Geburtstag bereits hinter sich haben. Nina und Madeleine wohnen seit Jahrzehnten im obersten Stockwerk Tür an Tür. Alle glauben, dass sie einfach Nachbarinnen sind. Sie kommen und gehen zwischen den beiden Wohnungen hin und her, geniessen und teilen die Freuden des täglichen Lebens, bis ein unvorhergesehenes Ereignis ihre Beziehung auf den Kopf stellt. Dieses Ereignis bringt Madeleines Tochter dazu, nach und nach die Wahrheit über die beiden Liebenden zu enthüllen. Nina und Madeleine träumen davon nach Rom auszuwandern, in die Stadt, in der sie vor Jahren zueinander gefunden haben um dort wenigsten ihren Lebensabend ohne Heimlichkeiten zu verbringen. Doch so einfach ist das nicht.

Filippo Meneghettis, der ursprünglich aus Padua in Italien kommt, erste Arbeitserfahrungen in der New Yorker Indie-Film-Szene machte und seit 2018 in Frankreich lebt, hat erklärt, dass sein Spielfilmdebüt «Deux» ein Film des Kampfes sei. «Meine Co-Autorin Malysone Bovorasmy und ich wollten einen Film ohne Opfer machen, weil wir Figuren bevorzugen, die kämpfen, auch wenn sie leiden. Ich wollte Empathie wecken, auch wenn Madeleine oder Nina Dinge tun, die wir nicht gutheissen: Sie sind fähig zu Lügen, Gemeinheiten, Manipulation.»

Auf die Frage, wie er auf die Idee zum Film kam, erzählt er: «Ich wollte die Geschichte von zwei Frauen erzählen, die sich heimlich lieben. Aber ich wusste nicht, wie ich es inszenieren sollte. Eines Tages erzählte mir ein Freund von zwei älteren Frauen, die über ihm wohnten. Sie waren vor kurzem verwitwet und wohnten gegenüber von einander. Und um sich weniger einsam zu fühlen, liessen sie die Tür immer offen. Aus dieser Anekdote heraus begann der Film in meinem Kopf Gestalt anzunehmen.» Doch er hält fest, dass die Figuren eigentlich auch ein Mann und eine Frau sein könnten, doch er hat sich für ein lesbisches Paar entschieden, denn: «Alles, was von der Norm abweicht, interessiert mich. Ich denke, es ist vor allem ein Film über die Art und Weise, wie andere uns sehen. Und über Selbstzensur. Eine unsichtbare, aber sehr heftige Zensur. Die Art und Weise, wie wir uns selbst betrachten, wird von der Art und Weise gespeist, wie unsere Lieben und die Gesellschaft uns betrachten. Und am Ende verinnerlichen wir es. Und genau darum geht es bei «Deux». Der Film wirft Themen auf, mit denen sich jeder identifizieren kann, egal ob man heterosexuell oder homosexuell ist. Wie kann man sich selbst akzeptieren, sich selbst annehmen?»

Neben den beiden heimlich Liebenden spielt hat auch die Tochter von Madeleine eine wichtige Rolle in der Geschichte. Anne (Léa Drucker) stellt die Homophobie nicht in Frage. «Das ist nicht das Thema des Films», erklärt Meneghettis. «Was mich interessiert, ist, wie sie zugeben kann, dass ihre Mutter mit 70 Jahren noch ein aktives Sexualleben hat. Es ist schwer, sich zu sagen, dass unsere Eltern noch Lust haben, dass ihr Liebesleben nicht vorbei ist. Wir neigen dazu, sie zu idealisieren, sie in ein Bild zu sperren.»

«Ich wollte ein Melodram machen, das wie ein Krimi inszeniert ist, ein Krimi der Sitten.»

Der Film spielt die meiste Zeit in den beiden Wohnungen von Madeleine und Nina, sie reichen aus, um das Leben der unterschiedlichen Frauen zu erklären. «Ihre Wohnräume sind wie Spiegel ihrer Seele. Die Dekoration von Madeleines Wohnung ist reichhaltig. Jeder Schnickschnack hat eine Bedeutung. Jedes Objekt erzählt uns die Geschichte ihrer Familie. Dieser warme Ort erinnert uns ständig an das Gewicht, das auf ihr lastet, an die Fesseln, die sie umgeben, an die Ketten, die sie unbeweglich machen. Es ist eine Art Gefängnis. Im Gegensatz dazu ist Ninas Wohnung völlig leer», erklärt Meneghettis das Setting des Films. Bei der Inszenierung arbeite er mit einer Spannung und einer Beklemmung, die man in einem Genrefilm wie einem Thriller erwarten würde. «Aber dies ist ein Genrefilm!» insistiert Meneghettis. «Ich wollte ein Melodrama machen, das wie ein Thriller inszeniert ist, ein Thriller der Sitten.» «Deux» ist auch kein Sozialdrama, obwohl der Regisseur die Realität regelmässig in die Geschichte einbringt, beispielsweise als Nina das Geld zählt, das sie für ihre Abreise nach Rom verwenden muss. «Zwar möchte ich den Film nicht in das Genre des Sozialdramas einordnen, doch das heisst nicht, dass ich mich nicht mit sozialen Themen auseinandersetzen möchte. Im Gegenteil, es interessiert mich sehr. Geld ist ein Element, das unsere Heldinnen in der Realität verankert. Er erinnert uns daran, dass sie nicht nur Filmfiguren sind.» 


«Deux»

Frankreich 2020
Regie: Filippo Meneghetti
Darsteller*innen: Barbara Sukowa (Nina), Martine Chevallier (Madeleine), Léa Drucker (Anne), Muriel Benazeraf, Jérome Varanfrain,
Drehbuch: Filippo Meneghetti, Maysone Bovorasmy

Im Kino ab 19. August 2021

 

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