Levan Akin («And Then We Danced») erzählt in seinem neuen Film von der Suche einer georgischen Lehrerin nach ihrer trans Nichte in Istanbul. Der Film fängt nicht nur die Verlorenheit vieler Menschen in dieser Grossstadt ein, sondern vermittelt immer wieder auch Lebensfreude. Eine Filmbesprechung von Herman Kocher.
Der Film beginnt (wie bei georgischen Werken ab und zu) mit dem Rauschen des Schwarzen Meeres. Eine ältere, distinguierte Frau läuft forschen Schrittes dem Ufer entlang. Sie hat eine Mission: Ihrer im Sterben liegenden Schwester hat sie versprochen, deren Tochter Tekla nachhause zu holen. Jene ist seinerzeit, als trans Frau von der Familie und vom Dorf ausgestossen, nach Istanbul ausgewichen, in die Stadt, in die Menschen gehen, wenn sie verschwinden wollen, wie einmal gesagt wird. Lia, pensionierte Geschichtslehrerin, trifft bei ihrem Gang auf das Haus eines ehemaligen Schülers. Dort wohnt seit dem Tod der Eltern auch dessen 25 Jahre alter Bruder Achi. Er ist den Launen seines älteren Bruders ausgesetzt und hat in Georgien keine berufliche Perspektive. Er überredet Lia, ihn nach Istanbul mitzunehmen, da er angeblich weiss, wo Tekla untergekommen ist. Achi hofft, in Istanbul einen Job zu finden. So machen die beiden sich mit dem Auto des Bruders von Achi, das sie irgendwo stehen lassen, mit Schiff und Bus auf den Weg in die türkische Grossstadt. Hier beginnt nun die Suche nach Tekla, die vor allem durch heruntergekommene Quartiere und Wohnungen, in denen sich die (trans) Prostitution breit gemacht hat, führt. Hilfe bietet dabei Evrim an, eine trans Frau, die Sexarbeitet leistete oder nach wie vor leistet, vor allem aber als angehende Juristin in einer lgbt-Organisation mitwirkt und sich daneben auch für Strassenkinder einsetzt. «Wer sucht, der findet» – oder auch nicht!? Vielleicht findet Lia gerade dann, als sie aufhört, aktiv zu suchen. Oder vielleicht eben auch nicht.
Grenzen überwinden
Die Geschichte ist an sich einfach. Deren Verlauf ist allerdings spannend montiert. So lernen wir als Zuschauende Evrem oder zwei Strassenkinder kennen, lange bevor deren Wege sich mit jenem von Lia und Achi kreuzen. Wie zufällig begegnen wir ihnen auf der Fähre, mit der Letztere nach Istanbul übersetzen. Es scheint so, dass sich in Istanbul alle irgendwann irgendwo (wieder) begegnen, trotz den riesigen Ausmassen dieser Stadt. Eindrücklich ist der Film insofern, als (wie im Titel «Crossing» angedeutet) immer wieder Grenzen überwunden werden: zwischen Ländern, Kulturen, Sprachen, Generationen, sozialen Milieus, traditionellen Rollenbildern bzw. queeren und heteronormativen Lebensstilen. Berührend ist, wie die beiden so unterschiedlichen Charaktere von Lia und Achi mit der Zeit immer mehr zusammenfinden und wie Lia, die strenge Lehrerin, nach und nach auflebt und weichere Züge bekommt. So äussert sie nun, sie habe die Reise eigentlich mit dem Ziel unternommen, sich für das abschätzige Verhalten von ihr und ihrer Schwester Tekla gegenüber zu entschuldigen und dieser zu übermitteln, dass ihre Mutter sie liebgehabt habe. Vielleicht sind sich Lia und Achi ähnlicher als sie selber meinen. Nicht nur insofern, als Achi dauernd Essen in sich hineinstopft (ab und zu zu viel) und Lia dafür sich immer wieder ein Schnäpschen gönnt (ebenfalls ab und zu zu viel).
Lebensfreude trotz Verlorenheit
Der Film fängt nicht nur die Verlorenheit vieler Menschen in dieser Grossstadt ein – die überall streunenden herrenlosen Katzen sind wie ein Symbol dafür – sondern vermittelt immer wieder auch Lebensfreude, wenn getanzt oder gesungen wird. Aus westlicher Optik mag «Crossing» nicht allzu viel Neues bringen, was die queere Community angeht. Die Ankündigung des Films als «Zeichen gegen die Bigotterie und für die gesellschaftliche Vielfalt» ist etwas gar hoch gegriffen. Immerhin ist eindrücklich, wie viel an Solidarität, Hilfsbereitschaft und gegenseitiger Unterstützung in der oft trostlosen Welt der (sich prostituierenden) trans Personen in Istanbul greift. Gerade für die Gesellschaft Georgiens ist der Film allerdings durchaus nicht harmlos. Das musste der schwedisch-georgische Regisseur Levan Akin schon anhand seines früheren Werks «And Then We Danced» von 2019 merken. Jener Film über einen Tänzer, der wegen seiner Homosexualität die Ballettschule verlassen musste, hat in Georgien Aufstände und Hasskommentare gegen den Regisseur und die Protagonisten ausgelöst. Die politischen Machthaber Georgiens schlagen zudem momentan nach russischem Vorbild einen Weg ein, der die lgbtiq-Community zunehmend diskriminiert.
Nicht zuletzt mögen sich diesen Film alle Istanbul-Fans anschauen. Schon die erste Grossaufnahme dieser immer pulsierenden Stadt bei der Ankunft von Lia und Achi zieht die Betrachtenden in den Bann.
Hermann Kocher
«Crossing» («Auf der Suche nach Tekla»)
Regie: Levan Akin
Schweden/Dänemark/Frankreich/Türkei/Georgien 2024; 106 Min.
Cast: Maia Arabili (Lia), Lucas Kankava (Achi), Deniz Dumana (Evrim)
Startdatum in den Deutschschweizer Kinos: 12. September 2024