QueerPop 2020

DJ Ludwig & DJ Coreys Rückblick auf das queere Pop-Jahr

Auch wenn das Corona-Jahr viel verhinderte, queere Musiker*innen liessen sich nicht davon abhalten, neue Songs zu schreiben und zu produzieren. Viele schöne und aufregende Lieder sind dabei entstanden und es gab einige Neuentdeckungen zu machen im Jahr 2020. Die Tolerdance-DJs und QueerUp-Radio Macher Ludwig und Corey lassen das Jahr Revue passieren.
 

 Die «alten» und «jungen» Stars
 Covers: aus alt mach neu
 Disco Comeback ohne Club
 Italien wird (etwas) queer
 Starke Frauen aus Frankreich
 Die Coming-outs 2020
 Abseits vom Mainstream – queer und alternativ
 Die Drag Queens sind nicht zu stoppen
 The Next Big Thing?
 Die Playlist

Für Popmusiker und –Musikerinnen war 2020 ein mieses Jahr. Die Pandemie hat vielen die Arbeit und damit das Einkommen genommen. Denn sie leben nicht alleine vom Komponieren und im Studio Songs aufnehmen, sondern vor allem von Auftritten – und die wurden bekanntlich fast alle abgesagt. Wie ernst es mit dem Virus ist, wurde vielen klar, als im Mai der Eurovision Song Contest abgesagt wurde. Wir konnten keinen Siegersong 2020 feiern und somit ist der Holländer Duncan Laurence immer noch der aktuelle Titelhalter. Für Duncan ist das Jahr nicht schlecht gelaufen. Er hat sein erstes Album («Small Town Boy») veröffentlicht — ein ziemlich gutes sogar — und er hat sich neu verliebt! Seinem Auserwählten hat er im September auch gleich einen Verlobungsring angesteckt. Dafür gab unser Schweizer Promi-Lesbenpaar Tamynique im November bekannt, dass sie sich getrennt haben. Die beiden Frauen sind jetzt wieder Tamy und Dominique. Sie haben aber versprochen, auch weiterhin als DJ-Duo Tamynique aufzutreten. Die Liebe kommt, die Liebe geht. Genau so ist es im Pop-Business. Die einen sind am aufsteigen, die anderen gehen vergessen. Es ist allerdings schön zu sehen, wie unsere queeren Held*innen im Pop dieses verhinderte Jahr produktiv genutzt haben.


Die «alten» und «jungen» Stars

LBGTQ-Stars von gestern und heute gaben sich ein Stelldichein im reichen Pop-Jahr 2020. Die alte Garde, bestehend aus 80er-Helden wie den Pet Shop Boys, Erasure, Marc Almond oder den Vorzeigeschwulen wie Elton John, Rufus Wainwright und Ricky Martin, denken noch lange nicht ans Abtreten. Auch wenn sie mit neuer Musik teilweise an ihre besten Zeiten anknüpfen konnten, reichte es meistens nur für einen Achtungserfolg. Im Gegenzug rückte die neue Garde (Sam Smith, Troye Sivan, Woodkid), immer mehr in den Vordergrund.

Die Synthie-Pop-Veteranen Pet Shop Boys beendeten mit «Hotspot» ihre Berliner Trilogie, die 2013 mit «Electric» begann und 2016 mit «Super» fortgesetzt wurde. Auch der dritte Teil entstand unter der Ägide von Erfolgsproduzent Stuart Price. Für die famose Dance-Nummer «Dreamland» haben die beiden älteren Herren die jüngere queere Band Years & Years um Olly Alexander ins Boot geholt.

Auch ihre Kollegen Vince Clark und Andy Bell von Erasure lösten auf «The Neon» wohlige Nostalgiegefühle aus.

Wie in fast jedem seiner Solo-Alben nach dem Split von Soft Cell tauchte Marc Almond auf «Chaos And A Dancing Star» erneut in die dramatische Welt des orchestralen 60er-Jahre-Pop und des Chansons ein.

Elton John durchwühlte während der Corona-Krise sein reiches Songarchiv und veröffentlichte Ende Jahr eine 148 Songs umfassende Retrospektive mit dem Titel «Elton: Jewel Box».

Rufus Wainwright beendete mit «Unfollow The Rules» eine vierjährige Schaffenspause. Der dandyhafte Pop-Rebell besann sich dabei auf seine typischen barocken und balladesken Singer-Songwriter-Tugenden zurück. Man mag es ihm echt gönnen, dass er in der Mitte seines Lebens steht und seinen Weg als schwuler Künstler, Ehemann und Familienvater gefunden hat. Aber irgendwie schade, dass er seine Sturm-und-Drang-Phase schon überwunden hat.

Ricky Martin hat den Lockdown für eine kreative «Pausa» genutzt. Auf der gleichnamigen EP inszenierte er sich als melancholischer Romantiker. Bei vier Songs kollaborierte er mit Stars wie Sting, der mexikanischen Singersongwriterin Carla Morrison, dem Flamenco-Sänger Diego El Cigala und dem Puerto-Ricaner Pedro Capò.

Troye Sivan, Woodkid und Sam Smith

Sam Smith, dei* sich neuerdings als non-binär bezeichnet, wurde durch die erste Corona-Welle zu einer Planänderung gezwungen. Das ursprüngliche Konzept, ein queeres, kunterbuntes Dance-Album herauszubringen, wurde vorerst auf Eis gelegt. So bewegte sich Sam Smith auf «Love Goes» in der üblichen Komfortzone, die meistens aus perfekt konfektionierten Herz-Schmerz-Balladen und Midtempo-Stücken besteht. Immerhin: Smiths Gesangskünste sind nach wie vor beeindruckend.

Der globale queere Star Troye Sivan überraschte seine Fans mit der EP «In A Dream». Die sechs neuen Songs warteten mit relaxten sommerlichen Beats, verführerischen Dance-Pop-Nummern und verträumt düsteren Balladen auf. Damit konnte er seine Vision des Synthie-Pop-Sounds weiterentwickeln. Im Dezember reichte er eine neue Version von «Easy» mit Country-Sängerin Kacey Musgraves und Mark Ronson nach. Im dazugehörigen Video in voller 80er-Ästethik spielen Troye und Kacey zwei Aussenseiter auf der Flucht in Nashville, wo sie in schäbigen Motels übernachten, auf viele queere Menschen treffen und in Country-Bars abhängen.
 
Tanzen und Abhängen in Nashville: «Easy», Troye Sivan, Kacey Musgraves, ft. Mark Ronson

2020 war auch das Jahr des unerwarteten Comebacks des Franzosen Yoann Lemoine, besser bekannt als Woodkid. Drehte sich sein episches Debüt «The Golden Age» von 2013 um den Abschied von der Jugend, bezieht sich der Albumtitel «S16» auf den Schwefel, ein Symbol für den Teufel und die dunkle Seite des Menschen. Auf dem Albumcover umarmt Woodkid sein inneres Monster und damit seine eigene Verletzlichkeit. «S16» enthält industrielle elektronischen Beats und klassische filmreife Orchestrierungen, die von Woodkids unglaublich warmer und sanfter Stimme zusammengehalten werden. Bestimmt eines der besten Alben des Jahres, nicht nur aus queerer Sicht, und in seiner Düsternis scheint es der perfekte Soundtrack zum verseuchten Jahr zu sein.


Covers: aus alt mach neu

Wieso einen neuen Song schreiben, wenn es so viele gute alte Lieder gibt? Auch queere Musiker*innen habe 2020 Oldies neu interpretiert. Hier eine Auswahl:

Der Song «Smalltown Boy» von Bronski Beat aus dem Jahr 1984 ist ein Klassiker des QueerPop. Er beschreibt das Gefühl «the only gay in the village» zu sein. Der Kleinstadtbub verlässt sein Kaff um in der weiten Welt zu sich selbst zu finden und seine Homosexualität auszuleben. Das war klasse Songwriting von Steven Bronski, Jimmy Somerville und Larry Steinbachek und eine New-Wave-Disco-Produktion, die heute noch alle auf die Tanzfläche lockt. Im 2020 wurden gleich zwei neue Versionen von «Smalltown Boy» veröffentlicht. Doch welche ist die bessere?

Im Pride Monat beglückte uns der maskierte Cowboy Orville Peck mit einer düsteren Country-Version von «Smalltown Boy». Er hat sie mit Country Twang angereichert ohne seine Wurzeln im New-Wave-Disco zu verleugnen. Und statt «cry, boy, cry» singt er «Cowboy cry». Sehr gelungen, grad weil Orville sein eigenes Ding daraus machte. Schon ein paar Monate zuvor hat er einen weiteren QueerCountry-Klassiker neu interpretiert, nämlich Willie Nelsons «Cowboys Are Frequently, Secretly Fond of Each Other».

Orville Peck spielt ein Cover von Willie Nelsons «Cowboys Are Frequently, Secretly Fond of Each Other» live in den SiriusXM Studios in New York.

Im September brachte Ricky Merino seine Version von «Smalltown Boy» heraus. Für den muskulösen Castingshow-Star aus Mallorca war es seine erste englischsprachige Single. Er blieb nahe am Original — Elektro-Pop für die Tanzfläche. Er wollte damit die Menschen würdigen, die für sexuelle oder geschlechtliche Freiheit kämpfen. Um sein Statement zu verdeutlichen, reiste Ricky nach Wien um mit Europas grösster LGBT-Heldin und Eurovision Gewinnerin Conchita Wurst zusammenzuarbeiten. Auch Tom Neuwirth ist ein Kleinstadtjunge. Er musste sein Dorf in der Steiermark verlassen, um zu Conchita Wurst zu werden. In den Händen der beiden LGBT-Aktivisten entstand eine komplett neue Version mit passendem Video dazu, in dem die beiden ziemlich vertraut wirken und mit körperlichen Reizen nicht geizen. Ricky Merino will über Spanien hinaus bekannt werden und die Wurst, die sich in letzter Zeit eher auf den deutschsprachigen Raum konzentrierte, wollte mit dieser Zusammenarbeit die Fans in ganz Europa erreichen.
 
Für mich ist klar: Der Gewinner im «Smalltown Boy»-Battle ist Orville Peck.
 
Bei Conchita hapert es oft bei der Auswahl ihrer Songs. Seit dem Eurovision-Sieg ist ihr jedenfalls kein zweiter Hit gelungen. Vielleicht hat sie deshalb auf ein weiteres Cover gesetzt. Zusammen mit dem queeren Talent Lou Asril nahm sie den Discoklassiker «Lovemachine» von Supermax (1977) auf. Gelungen — doch kein Hit. Diese ‹Colab› wird vor allem Lou Asril helfen. Der junge Musiker, der wie Conchita aus Österreich kommt, steht an der Schwelle zum Durchbruch. Er hat bereits ein paar Singles veröffentlicht und ein Album ist in Planung. Die Themen des 20-jährigen Mannes mit Hang zu Soul und R&B sind so persönlich wie universell: Liebe, Sex, Selbstbewusstsein, aber auch Verletzlichkeit und Empowerment. «Ich will auch schlechte Zeiten haben», sagt er. «Daraus könne man viel lernen — vor allem ‹nicht stehen zu bleiben›».

Conchita Wurst singt zusammen mit Lou Asril den 70s-Disco-Hit «Lovemachine»


Wie Orville Peck ist auch die Drag Queen Trixie Mattel im Country-Rock zuhause. Trixie ist eine aussergewöhnliche Drag Queen, die musikalisch etwas zu bieten hat. Die meisten Dargstars setzen auf billig produzierten Dancepop. Nicht so Trixie. Sie schreibt ihre Songs selbst und spielt dazu Gitarre. Ihr im Frühling erschienenes Album «Barbara» lässt sich auch gut hören, ohne sie dabei mit ihrem signifikantes Make-up und den riesigen Perücken zu sehen. Neben den hörenswerten Eigenkompositionen «Jesse Jesse» und «Gold» hat Trixie auch einen Klassiker des Gay-Country neu interpretiert: «Stranger» von Patrick Haggerty, ab dem ersten schwulen Country-Album «Lavender Country» von 1974. Mehr Queer-Country gibt’s hier.

Boniface, Ricky Merino, Trixie Mattel, Orville Peck, Conchita Wurst und Lou Asril

Hinter dem Bandnamen Boniface steht dei* non-binäre Singer-Songwirter Micah Visser aus Kanada. Im Februar 2020 erschien das lang erwartete Debüt-Album «Boniface». Es wurde von der Kritik gelobt und zeigt ein Talent, von dem in Zukunft noch einiges zu erwarten ist. Micah Visser wollte mit den Songs eigentlich auf Konzert-Tournee, um für das Debüt zu werben. Die Corona Pandemie machte einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen schob Boniface eine EP mit Akustikversionen der Songs nach und einer speziellen Coverversion: Er verwandelte die Disco-Rock-Nummer «I Was Made For Loving You» von Kiss (1979) in eine wunderschöne Ballade.
 
Das Thema Gender und Non-Binär war 2020 in aller Munde. Aber dass es ein drittes Geschlecht geben kann, war der französischen Band Indochine schon 1985 klar. In ihrem Hit «3eSexe» sangen sie damals «Une fille au masculin, un garçon au féminin». Für ihr 40-jähriges Jubiläum als Band, das 2021 ansteht, haben Indochine jetzt eine Singles-Kollektion veröffentlicht und gleich noch eine neue Version ihres Klassikers «3eSexe» aufgenommen. Dafür haben sie mit Héloïse Letissier alias Christine and the Queens, die sich bekanntlich aus Geschlechtsdefinitionen nicht viel macht, zusammengearbeitet. Entstanden ist eine gelungene Neuinterpretation, die dem Bandjubiläum würdig ist und es sofort in die Top 10 der französischen Charts schaffte.

Indochine und Christine and the Queens mit «3SEX»


Disco Comeback ohne Club

Dass ausgerechnet im Jahr, in dem die meisten Clubs wegen der Pandemie geschlossen bleiben mussten, Discomusik ein Comeback feiert, ist erstaunlich. Offensichtlich lässt sich auch in der Küche Party feiern. So zumindest machte es Sophie Ellis-Bextor, die während des Lockdowns ihre Disco-Hits wieder liebgewann und uns zum Jahresende «Songs from the Kitchen Disco» schenkte, ein Best-of ihrer Dance-Hits. Auch Róisín Murphy besann sich auf ihre vergangenen Zeiten als Disco-Queen, als sie in den 90ern mit Moloko die Dancfloors prägte. Ihr Album «Ròisìn Machine» bringt uns hedonistischen Disco-House mit viel Groove. Kylie nannte ihr neues Album gleich «Disco», doch das ist etwas flau geraten und gehört vergessen. Um einiges interessanter war Jessie Wares Album «What’s Your Pleasure». Disco für Erwachsene nannte sie es, und tatsächlich ist ihr ein interessantes Werk gelungen. Dua Lipa («Don’t Start Now»), BTS («Dynamite»), Lady Gaga («Rain On Mre») und viele weitere brachten Songs heraus, die stark von Disco geprägt sind, und haben damit die Charts erobert. Zudem brachte der schwule Schauspieler und Sänger Billy Porter («Pose») mit Hilfe der Shapeshifters eine Pride-Song im Disco-Look raus, der leider wegen dem Ausfall der Prides in diesem Jahr nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die «Finally Ready» verdient hätte.

Billy Porter, Horse Meat Disco, Bright Light Bright Light, Sam Sparro

Doch es war ein schwules DJ-Kollektiv aus London, das 2020 mit einem grossartigen Disco-Album begeisterte. 2004 starteten die vier Männer Luke Howard, James Hillard, Severino Panzetta und Jim Stanton ihre Partyreihe Horse Meat Disco. Es sollte eine «Queer Party for all» sein, also für LGBT’s und Heteros. Sie spielten Perlen aus der klassischen Disco-Ära der 70er- und 80er-Jahre vermischt mit neuen Sounds und fanden so bald ein begeistertes Publikum. Nur so nebenbei: Das Tolerdance im ISC Bern startete mit demselben Konzept bereits 1992! Nach verschiedenen Compilations brachten Horse Meat Disco im Herbst nun ein Disco-Album mit ausschliesslich eigenem Material heraus. «Love & Dancing» feiert die Liebe für Underground- und Italo-Disco sowie Soul, Funk und House. Es gibt tolle Features, unter anderem von Kathy Sledge von den legendären Sisters Sledge und von The Phenomenal Handclap Band. Ein Fest für alle, die eine Discokugel im Herzen tragen.

Horse Meat Disco und Amy Douglas wollen in die Disco: «Let’s Go Dancing».


Rückwärtsgewandt ist auch der Blick der schwulen Musiker Sam Sparro und Rod Thomas. Mit ihnen tauchen wir in die Musik ein, die Ende 80er- und Anfangs 90er-Jahre die Clubs und Charts prägte.

Um den australischen Musiker Sam Sparro war es lange ruhig. Nach seinen ersten Erfolgen 2008 mit seinem Debütalbum und dem Hit «Black & Gold» rutschte er in die Alkoholsucht. Er hat sich inzwischen wieder gefangen, seinen Partner geheiratet und endlich ein neues Album aufgenommen. Dieses ist — vollkommen zu Unrecht — vom Publikum ignoriert worden. Doch «Boombox Eternal» ist ein tolles Album, eine Hommage an die Popstars, mit denen Sparro in den 80ern aufgewachsen ist. Es erinnert an die legendären Produktionen von Jam & Lewis für Janet Jackson, an Hits wie Whitneys «How will I Know», aber auch an Prince und INXS. Tatsächlich könnte das Album 1989 erschienen sein, denn es verweigert sich jedem aktuellen Zeitgeist. Schade, dass so tolle Songs wie «Eye to Eye» oder «Everything» nicht mehr Menschen hören wollten.
 
Rod Thomas hatte mit seinem Projekt Bright Light Bright Light mehr Erfolg. Auch sein Album «Fun City» erinnert an die 80er-Jahre und ist ein Liebesbrief an die LGBTQ-Community und an die Gay-Clubs als sichere Zufluchtsorte. Doch Rod Thomas hat den 80’s-Sound zeitgemäss produziert und zahlreiche Gaststars aus der Community eingeladen, wie Andy Bell (Erasure), Jack Sheers (Scissor Sisters), den Bären-Rapper Big Dipper, die queere Frauenband Caveboy und den australischen Sänger/Schauspieler Brendan Maclean. Ein gelungenes queeres Album das Spass macht und zum tanzen in den eigenen vier Wänden einlädt.

Bright Light Bright Light & Caveboy «It’s Alright, It’s OK» mit dem genderfluiden Künstler*in Glow Job.

Einer der grössten Dance-Hits des Jahres war «No Therapy». Ein perfektes Beispiel für Diversität in der Popmusik. Felix Jaehn, ein bisexueller DJ aus Deutschland, Bryn Christopher, ein schwuler Sänger aus Grossbritannien und Nea, eine heterosexuelle Sängerin und Songwriterin aus Schweden waren verantwortlich für diesen Tanzflächenfüller, der im letzten Jahr leider nur in leeren Clubs gespielt werden konnte. Sobald die Türen der Clubs wieder öffnen, werden wir zu diesen Songs endlich unter der Spiegelkugel tanzen können.


Italien wird (etwas) queer

Italien und Queer im Pop-Mainstream sind ein bisschen wie Teufel und Weihwasser. An Identifikationsfiguren für ein LGBTQ-Publikum hat es zwar nie gemangelt. Diejenigen, die es früher wagten, offen zu ihrem Schwul- oder Anderssein zu stehen, mussten dafür einen teuren Preis zahlen, wie z.B. Umberto Bindi. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum selbst ein Star der glitzern-melancholischen Travestie-Show wie Renato Zero, der 2020 zur Feier seines 70. Geburtstags drei neue Alben herausbrachte, sich bislang nicht zu einem Coming-Out entscheiden konnte.

Mit Tiziano Ferro hat Italien den ersten grossen offen schwulen Superstar. Seiner Karriere hat das Coming-Out auf jeden Fall nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Tiziano Ferro ist zum schwulen Schätzchen der Nation geworden. Der Weg zur eigenen Akzeptanz war für ihn trotzdem nicht leicht. In der jüngsten Amazon-Doku «Ferro» beichtet er schonungslos die Höhe- und Tiefpunkte seines Lebens. Als Schüler und am Anfang seiner 20er war Ferro übergewichtig und sah sich mit Mobbing und Verspottung konfrontiert. Er kippte ab in Alkohol und Depressionen. Nach einem langen Prozess gelang ihm seine Sinnfindung in der Musik und in der Liebe, zuerst zu sich selbst und dann zu seinem Ehemann Victor Allen. Zeitgleich zur Doku «Ferro» hat der Pop-Star im November das Album «Accetto miracoli» von 2019 um ein Cover-Album mit dem Titel «L’esperienza degli altri» ergänzt. Damit erweist Tiziano Ferro seinen Lieblings-Canzoni die Ehre. Das tut er mit der gewohnten Sensibilität und persönlichen Ausdrucksfähigkeit. Bei der Song-Auswahl hat er seine queeren Jugendidole Giuni Russo («Morirò d’amore») und Scialpi («Cigarettes & Coffee») nicht vergessen.

Die Welt der Casting-Shows hat in den letzten Jahren eine Reihe neuer queerer Talente hervorgebracht. Marco Mengoni, Michele Bravi und Marco Carta zählen zu den Bekannteren. Nur Letzterer wagte ein Coming-Out als Schwuler, die beiden Ersten bezeichnen sich entweder als genderfluid oder bisexuell, obwohl sie in der Öffentlichkeit meistens ausschliesslich in männlicher Begleitung gesichtet werden. Auch neue Publikumslieblinge, wie Mahmood, Gewinner des Sanremo-Festivals von 2019 und Rapper Achille Lauro, beide Künstler, die reichlich mit Homoerotik und Queerness spielen, halten sich diesbezüglich bedeckt. In der Staffel 2020 von X-Factor Italy sind Blue Phelix und Vergo aufgefallen. Blue Phelix bezeichnet sich als non-binär, Vergo als homosexuell. Aber das Fernsehpublikum war entweder nicht vorbereitet oder hatte keinen Bock auf exzentrische und selbstbewusste queere Figuren, so dass beide am Weiterkommen gehindert wurden. Schade, denn schlechter als die Finalisten waren sie wirklich nicht. In ihren Original-Songs «Mi Ami» (Blue Phelix) und «Bomba» (Vergo) schimmert ihr Talent durch.

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Trap-, R&B- und Hip-Hop-Elemente inzwischen den italienischen Mainstream-Pop erreicht haben und dieser Trend nicht aufzuhalten ist, wie Mahmoods letzte Singles «Dorado», «Moonlight popolare» und «Rapide» eindeutig belegen.

Mahmood auf Schildkröte und unter Männern in «Rapide»

Der queere Elektro-Global-Latin-Pop DJ Andrea Mangia alias Populous ist in der italienischen LGBTQ-Gemeinde bestens verankert. Mit seinem Album «W», einer Hommage an die weiblichen und queer-feministischen Ikonen der Pop-Geschichte wie Amanda Lear, Grace Jones, Missy Elliott und RuPaul, setzte Populous 2020 ein musikalisches Zeichen gegen Homophobie und Macho-Kultur.


Starke Frauen aus Frankreich

Frankreichs Musikjahr 2020 war von starken Frauen geprägt. Mathilde Gerner alias Hoshi konnte mit «Sommeil levant» an den Erfolg ihres Debüts «Il suffit d’y croire» (2017) problemlos anknüpfen. Die offen lesbische Pop-Sängerin verfeinerte ihren Mix aus eingängigen Electro-Pop-Melodien und sehr persönlichen Texten. Sie gab Einblick in ihre Kindheitserinnerungen («SQY», «Enfants du danger») und in ihre Anfangszeiten in der Popmusikwelt («Sommeil levant», «Fait-moi signe»). Mit «Amour censure» schuf sie eine eindrückliche Hymne gegen Homophobie.

Christine and the Queens, SoKo, Hoshi, Vergo und Mahmood

Christine And The Queens, seit einigen Jahren der Liebling der jungen französischen Musikszene, überraschte mit der EP «La Vita Nuova». In den neuen 6 Songs zwischen Pop, R&B und Electro stand die Gallionsfigur der LGBTQ-Community offen zu ihren inneren Dämonen, um sie am Schluss zu überwinden. Im Titelstück, einem Duett mit Caroline Polachek (Ex-Sängerin der Indie-Band Chairlift»), sang «Chris» zum ersten Mal auf Italienisch. In Kombination mit dem gleichnamigen Kurzfilm, der in der opulenten Kulisse der Pariser Opéra Garnier gedreht wurde, landete sie einen atmosphärischen Volltreffer.

Die Newcomerin Mélodie Lauret legte mit der EP «23H28» ein intimes musikalisches Tagebuch vor. Die 20-Jährige gilt als das weibliche Pendant zu Eddy De Pretto. Wie er reichert sie traditionelle französische Chansons mit urbanen Elementen an.

Die 34-jährige pansexuelle Künstlerin SoKo brach ein fünfjähriges Schweigen und entwarf auf «Feel Feelings» 12 Songs im Zeichen der Akzeptanz und Selbstliebe, darunter die stark psychedelisch angehauchte Pride-Monat-Hymne «Oh, To Be A Rainbow».

SoKo feierte den Regenbogen in «Oh, To Be a Rainbow!»

Etienne Daho, die französische Schwulenikone, die trotz seiner vielfältigen Referenzen an die schwule Subkultur Fragen um seine sexuelle Orientierung stets mit äusserster Diskretion behandelt, vervollständigte das verloren gegangene Cover-Album «Surf, Volume 1&2» mit seinen Interpretationen von Songs von David Bowie, Dennis Wilson, Henry Mancini, Air oder Pet Shop Boys. Zudem produzierte er das wunderbare Album von Jane Birkin «Oh! Pardon, tu dormais…».

Pierre Lapointe, der Künstler aus Québec, legte mit «Chansons hivernales» das erste 100%-schwule Weihnachtsalbum der Popgeschichte vor, auf welchem er sein gespaltenes Verhältnis zu den Festtagen und zum Winter im Allgemeinen unter die Lupe nimmt. Das Schallplattencover wurde vom berühmten Künstlerpaar Pierre Et Gilles gestaltet, die Streicherarrangements vom gefeierten Multiinstrumentalist und Songwriter Owen Pallett, bestens bekannt für seine Arbeit mit Hidden Cameras, Pet Shop Boys, R.E.M., Taylor Swift und vielen anderen mehr. Mit «Island» präsentierte Owen Pallett im Übrigen die Fortsetzung zu seinem Debüt «Heartland» aus 2010 und schuf wieder den Spagat zwischen Intimität und dramatischer Opulenz.


Die Coming-outs 2020

Coming-outs sind in der Musikszene etwas seltener geworden. Nicht weil die Musiker*innen sich besser verstecken, im Gegenteil! Es liegt daran, dass junger Popstars bereits geoutet ins Rampenlicht treten. Es ist von Anfang an klar. Das ist im Sport noch ganz anders. Dort war in der Schweiz das Coming-out von Curdin Orlik eine besondere Sache, auch wegen dem ausgezeichneten Artikel im «Tagi-Magi» dazu. In Frankreich outet sich der Eiskunstläufer Guillaume Cizeron, der mit seiner Partnerin Gabriella Papadakis im Eistanz schon einige Medaillen gewonnen hat. Dieses Outing war allerdings weniger überraschend und löste eher die Reaktion aus: endlich!

«Endlich ist es raus!» Das musst sich auch der spanischer Musiker Pablo Alborán gedacht haben, als er sich mit einem Video auf Instagram geoutet hat. «Ich bin hier, um euch zu sagen, dass ich homosexuell bin und es in Ordnung ist. Das Leben geht weiter, alles wird gleich bleiben, aber ich werde ein bisschen glücklicher sein als ich es schon bin.» Das ist bemerkenswert, weil Pablo Alborán auf der Iberischen Halbinsel nämlich bereits ein etablierter Star ist. Jedes seiner Alben erreichte die Spitzenposition in den Charts. Das Outing hat ihm nicht geschadet, auch sein neues und fünftes Album «Vértigo», das im November erschienen ist, landete auf Platz 1.

Der hübsche Spanier Pablo Alborán singt ziemlich dramatisch am Pool in «Si hubieras querido»

Es ist kompliziert. So kann man das Coming-out von Maria McKee übertiteln. Die 56-jährige Sängerin hatte 1990 einen Welthit mit «Show Me Heaven» und ist seit Jahrzehnten mit ihrem Mann, der auch ihr Produzent ist, verheiratet. Dass sie erst jetzt zu ihren lesbischen Gefühlen stehen kann, hat mit ihrer Kindheit zu tun: Als sie ihrer Mutter erzählte, dass sie ein Mädchen mag, wollte die mit einem Gebetskreis ihr Kind von den Dämonen der Homosexualität befreien. «Meine Mutter brachte mir bei zu glauben, dass mein Wert als Frau durch meine Bereitschaft und Fähigkeit, von mächtigen Männern begehrt zu werden, abhängig ist. Als ich es endlich zulassen konnte, mir die Gefühle für Frauen einzugestehen, war es, als würde ich zum ersten Mal richtig lieben.» Endlich konnte sie sich von der Dämonen der Kirche befreien. Ihren Coming-out-Post auf Instagram schloss sie mit den deutlichen Worten: «I have been, and always will be, queer as fuck.» Übrigens, ein neues Album hat sie auch noch veröffentlicht mit dem vielsagenden Titel «La Vita Nouva». Und ein weiteres Übrigens: Der schwule Schauspieler/Sänger Luke Evans brachte im November ’19 eine wunderbare Version von Maria McKees Überhit «Show Me Heaven» heraus.

Elliot Page, Mavi Phoenix, Maria McKee, Pablo Alboràn

Wenn jemand sich heute als schwul oder lesbisch outet, wirft das keine grossen Wellen mehr auf. Ein Trans-Coming-out hingegen findet grosse Beachtung. Elliot Page, der in vielen Hollywood-Filmen und Netflix-Serien in den Credits als Ellen Page aufgeführt wird und zahlreiche Preise gewonnen hat, bei denen der weibliche Namen eingraviert ist, (wird man das jetzt ändern?), ist seit dem öffentlichen Coming-out als Lesbe im Jahr 2014 einer der sichtbarsten LGBT-Aktivisten auf der Welt. Mit dem Outing sagte Page auch, dass er sich jetzt eine Weile zurückzieht, um sich in der neuen Lebenssituation zurechtzufinden. Bestimmt werden wir ihn bald wieder auf der Leinwand oder dem Bildschirm sehen. Wir sind gespannt, welche Rollen er annehmen wird.

Nicht ganz so berühmt ist Mavi Phoenix aus Linz in Österreich. Doch sein Coming-out-Album «Boys Toys» ist ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Musiker*innen mit einer Transidentität. Wie Lou Asril (siehe oben) hat auch Mavi mit dem in Linz ansässige Musiker und Produzent Alex the Flipper gearbeitet, der für die gelungene Produktion dieses Albums gefeierte wurde. Doch das grösste Lob gebührt dem 25-jährigen Mavi für seinen Mut zum Coming-out, und dieses auch noch musikalisch so kongenial zu verarbeiten. Er rappt und singt (in Englisch) über Geschlechtsidentität und Mann-Sein. Unbedingt reinhören!

Mavi Phoenix über sein Album «Toys Boys» und sein Coming-out als Transmann


Abseits vom Mainstream – queer und alternativ

Die Alternativ-Szene erwies sich auch 2020 als äusserst fruchtbarer Boden für LGBTQ-Künstler*innen. Im Bereich Singer-Songwriter stachen Perfume Genius, Moses Sumney, Anjimile und Douglas Dare hervor.
 
Mike Hadreas alias Perfume Genius gelang mit seinem fünften Album «Set My Heart On Fire Immediately» ein intimer Geniestreich, der Kammerpop und Indierock gleichermassen umspannt. Im Vergleich zu den bisherigen Arbeiten ging Perfume Genius viel entspannter und verspielter an die Themen Liebe, Sex, Romantik und Männlichkeit heran.

Moses Sumney, der aus Ghana stammende Amerikaner, legte ein komplexes Album über die Schönheit der Farbe Grau (Grae) vor. Er brach bewusst mit gesellschaftlichen und musikalischen Konventionen, indem er den Männlichkeitsbegriff hinterfragte und Soul, R&B und Indie-Rock in all ihren Facetten schimmern liess.

Auf «Giver Taker» thematisierte Anjimile den Prozess, zu sich als Trans-Mensch zu stehen, die neue Identität zu akzeptieren und eine Alkohol- und Drogenvergangenheit hinter sich zu lassen. Die Songs des*der Newcomers*in mit malawischen Wurzeln bedienen sich folkiger und afrikanischer Elemente und vermitteln trotz der Schwere der Themen eine gewisse Leichtigkeit.

Der 29-jährige Brite Douglas Dare beleuchtete auf seinem dritten Werk «Milkteeth» seine Jugendjahre auf dem elterlichen Bauernhof, wo er mit dem rosaroten Ballettröckchen seiner Mama herumtanzte. Sein minimalistischer Kammerpop mit reduzierter Begleitung erinnert an den frühen Rufus Wainwright und an Jeff Buckley.

Perfume Genius tanzt seine Gefühle zusammen im Tate Justas in «On The Floor»

Im Bereich Indie-Pop/Rock brillierten Rina Sawayama, Austra, Josef Salvat und Shamir.

Rina Sawayama, Musikerin, Model und Schauspielerin, liebt das Spiel mit den verschiedenen Identitäten und Stilrichtungen. Auf ihrem schrägen Debüt «Sawayama» klingt das 30-jährige japanisch-britische Multitalent wie eine Kreuzung aus Beyoncé, 80s-Pop und Metal. Mit «Chosen Family» ist ihr zudem ein Song gelungen, der das Zeug zur Hymne für die LGBT-Family hat.

Die 34-jährige Katie Austra Stelmanis, besser bekannt unter ihrem zweiten Vornamen, wusste schon von Anfang an mit ihrer Verbindung von opernhafter und elfengleicher Stimme mit Electro-Pop zu überzeugen. Auf «Hirudin» verfeinerte sie die bewährte Formel.

Der australische Elektro-Pop-Singersongwriter Josef Salvat zeigte sich auf «Modern Anxiety» als bisexueller Nachtfalter mit allen Pros und Kontras eines ausschweifenden Lebensstils.

Shamir aus Las Vegas wagte das Coming-Out als non-binary. Der 25-jährige Countertenor feierte auf seinem in Eigenregie produzierten Werk «Shamir» die neu gewonnenen Freiheiten in künstlerischer und identitärer Hinsicht.

Perfume Genius, Kaytranada, 070 Shake, Rina Sawayama, und Moses Sumney

Im Bereich Hip-Hop/R&B sind 070 Shake, Arlo Parks und Vincint erwähnungswürdig.

Auf ihrem lang erwarteten Debüt «Modus Vivendi» bewies die 23-jährige Danielle Balbuena alias 070 Shake ihr Können sowohl als Sängerin als auch als Rapperin. Die lesbische Latina, die mit ihren Skills selbst ihren Label-Chef Kanye West alt aussehen lässt, ging ganz selbstbewusst durch verschiedene Stilrichtungen, vom Emo-Rap über Zeitlupen-R&B bis zu futuristischem Pop.

Durch Sylvia Plaths Roman «Glasglocke» kam Arlo Parks zum Schreiben von Geschichten und Gedichten um dann zu poetischen Song-Texten zu wechseln. In ihrer EP «Sophie» sang die 19-jährige queere Newcomerin über die typischen Befindlichkeiten ihrer Generation. Mehr von ihrem akustischen, mal souligen, mal funkigen Bedroom-Pop wird es auf ihrem für Ende Januar 2021 erwarteten Debütalbum «Collapsed In Sunbeams» geben.

Der 19-jährige Sänger Vincint aus Philadelphia ist offen schwul. In den USA erlangte er als Finalist der Castingshow «The Four» einen gewissen Bekanntheitsgrad. Auf seiner ersten EP «The Feeling», die am Valentinstag 2020 erschien, deckt er thematisch alle Aspekte der Liebe ab. Geradeheraus und gefühlsbetont liefert der R&B-Sänger Zeugnis ab, wie es der jungen amerikanischen schwarzen und queeren Generation in Liebesdingen ergeht.

VINCINT tanzt alleine in «Someday»

2018 outete sich die Venezolanerin Alejandra Ghersi alias Arca als non-binäre Person mit weiblichen oder geschlechtsneutralen Pronomen. Auf dem Album «KiCki» brachte Arca industrielle Geräusche, futuristische Beats, Cyber-Pop und experimentelle Torch Songs unter einen Hut. Sie gestaltete ihre eigene Vision von Pop-Musik mit Unterstützung von namhaften Kolleginnen wie Björk, Sophie, Rosalìa und Shygirl.
 
Kaytranada, der 27-jährige Kanadier mit haitianischen Wurzeln, kreierte mit «Bubba» einen weiteren butterzarten und sonnendurchfluteten Soulful-DJ-Mix mit vielen Features, u.a. Pharrell Williams, Tinashe und Kali Uches.
 
Die globalen Queer-Ikonen von Indigo Girls brachten sich mit ihrem 16. Studioalbum wieder ins Gespräch. «Look Long» zeichnete sich durch sehr soliden Folk- und Country-Rock mit hier und da Blues- und Soul-Anleihen aus. Die zauberhaften Melodien und der göttliche Harmoniegesang von Amy Ray und Emily Sailers schlugen wieder zu.
 
Auf dem dritten Album «Bury The Moon» blickte Àsgeir, Islands spannendster Musik-Export nach Björk und Sigur Ròs, auf seine folkigen Anfänge zurück und untermalte seine sphärischen Klänge mit seiner an Bon Iver erinnernde Stimme.
 
Die in Nashville stationierte Sängerin, Songwriterin und Gitarristin Becca Mancari setzte sich auf ihrem zweiten Album «The Greatest Part» mit ihrer Vergangenheit in einer streng religiösen Familie und mit ihren Erfahrungen als queere junge Frau im Süden der USA auseinander.

Auch für Katie Pruitt aus Georgia lief es nicht immer rund. Ihre Geschichte erzählte die amerikanische Singersongwriterin in den zehn Songs zwischen Country, Pop und Rock, die sich auf ihrem Debüt «Expectations» befinden.


Die Drag Queens sind nicht zu stoppen

RuPaul haben wir es zu verdanken, dass Drag Queens nicht nur die Bühnen der Gay-Clubs erobern, sondern auch ihren Platz in der Musikindustrie suchen. Mit wenigen Ausnahmen, wie dem Countrysänger Brian Michael Firkus, der mit seinem Alter-Drag-Ego Trixie Mattel hervorragende Musik produziert (siehe oben), ist das musikalische Werk der meisten Queens eher bescheiden. Viel Tamtam und wenig Substanz. Gefühlt jede Queen aus RuPauls Drag Race hat sich als Sänger*in versucht. Etwas Gutes abgewinnen kann man Divina De Campos witzigem Beitrag zur Show, die sie bekannt machte, «A Drag Race Song» ab ihrer EP «Decoded». Der Australier Shane Gilberto Jenek, der dank der TV-Show bekannt wurde als Courtney Act, kann tatsächlich singen und hat 2020 die recht gute Single «Fluid» veröffentlicht. Ganz ohne Hilfe von GuRuPaul hat es der Brasilianer Pabllo Vittar in die Charts geschafft. Das allerdings mit gut ausgewählten Kollaborationspartnern und vornehmlich in seiner Heimat Brasilien. 


The Next Big Thing?

Was erwartet uns 2021? Da sind einige queere Musiker*innen in den Startlöchern, um im kommenden Jahr durchzustarten. Der schottische Sänger Joesef wollte eigentlich schon 2020 mit einer Tournee die Welt erobern, denn ohne Konzerte und Promo-Auftritten ist es äusserst schwierig, eine Karriere im Musikbusiness lukrativ zu gestalten. Der Lockdown hat sein Vorhaben vorerst verhindert. Immerhin hat er eine weitere EP veröffentlicht, die sein aussergewöhnliches Talent bestätige. Seine Zeit wird kommen.

Joesef, Alex Newell, Keiynan Lonsdale

Auch Alex Newell wird eine grosse Zukunft vorausgesagt. Der 28-jährige amerikanische Sänger, der sich selbst als gender-nonconforming bezeichnet, also weder vollständig männlich noch weiblich, sich allerdings nicht als trans oder non-binär identifiziert, ist mit einer Stimme gesegnet, die Vergleiche mit den grossen Diven wie Whitney und Mariah nicht scheuen muss. Alex wurde bekannt, als er in Ryan Murphis TV-Hit Glee mitspielen konnte. Alex Newell spielt auch bereits am Broadway, wofür man ihn feierte, wurde von zahlreichen Musiker*innen als Gastsänger eingeladen, wie Clean Bandit, Blonde und Adam Lambert, arbeitet mit Nile Rodgers zusammen für einen Song auf dem Soundtrack zur Fernsehserie «Vinyl» und machte 2020 in der Show RuPaul Celebrity Drag Race mit. Im kommenden Jahr soll endlich sein Debütalbum erscheinen. Zwei Singles hat er bereits veröffentlich, «Mama Told Me» und «Boy, You Can Keep It». Vielversprechend! Aber wie man in Celebrity Drag Race sehen konnte, gibt es etwas, das ihm im Weg steht: nämlich er selbst. Ihm scheint es noch an Selbstbewusstsein zu fehlen und dem richtigen Biss, um sich im hartumkämpften Musikbusiness durchzusetzten. Hoffen wir, dass er den Lockdown nutzte, um sich zu stärken und der Welt sein Talent zu offenbaren. Wir freuen uns auf die neue Diva Alex Newell!

Alex Newells Hymne an die Müttter «Mama Told Me».

Der sympathische Australier Keiynan Lonsdale wurde 2018 bekannt durch eine Nebenrolle im Coming-out Film «Love, Simon», in dem er zum Happy End des Films den Hauptdarstellen küssen durfte und dafür den MTV Movie Award für den besten Kuss einheimste. Diese Szene inspirierte ihn auch zur Single «Kiss The Boy». 2020 ist nun sein erstes Album erschienen und heisst, wie es zu einem stolzen schwulen, jungen Mann passt, «Rainbow Boy». Auch konnte er seine Nebenrolle in «Love, Simon» weiterentwickeln. Es wurde nämlich eine TV-Serie produziert unter dem Titel «Love, Victor», die in der «Love, Simon»-Welt spielt und in der Keiynan als Gaststar auftreten konnte. Wann die Serie bei uns zu sehen ist, ist noch nicht bekannt. Doch von Keiynan Lonsdale werden wir in Zukunft noch einiges zu sehen und hören bekommen.


*Mangels einer adäquaten deutschen Übersetzung des englischen geschlechtsneutralen Pronomens «they» haben wir kurzerhand ein neues erfunden: dei.


Die XL-Playlist mit 70 queeren Songs

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Die 2-stündige Sendung auf QueerUp Radio

Kommentare
  1. Henrik sagt

    Heyey, es gibt tatsächlich ein geschlechtsneutrales Deutsch, welches ein ähnliches Pronomen verwendet, wie ihr: dai
    Schaut doch mal hinein! https://geschlechtsneutralesdeutsch.com/

    1. Ludwig sagt

      Merci für den Hinweis. Das ist interessant. Doch mein dei (für die/der) gefällt mir besser als dai.

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