Tanzende Sinnlichkeit und existenzielles Unbehagen

Buchtipp der HAB-Bibliothek: Andrew Holleran, «Tänzer der Nacht»

1978 erschien Andrew Hollerans Roman «Tänzer der Nacht» (im Original «Dancer from the Dance»). Der Roman zeichnet ein zwiespältiges Sittengemälde der New Yorker Schwulenszene in den 1970er-Jahren. Schauplätze sind Discos, Saunas und Parks. Dem Sex und der Party wird exzessive gefrönt, doch macht sich angesichts der Oberflächlichkeit bei den Protagonisten auch Verzweiflung breit.

 

Nach Stonewall, vor Aids

Der Originaltitel von Hollerans Roman «Dancer from the Dance», stammt aus den letzten beiden Zeilen von W. B. Yeats’ Gedicht «Among School Children» (1927): «O body swayed to music, O brightening glance / How can we know the dancer from the dance?» (in etwa: «O Leib, der zu Musik schwingt, o glänzender Blick / Wie können wir vom Tanz den Tänzer unterscheiden?»). Der inhaltliche Bezug zu Hollerans verführerisch-glänzender Partywelt sticht natürlich sofort ins Auge. Darüber hinaus hat das Zitat aber auch politische Relevanz. In Diskussionen zum Thema Homosexualität behaupten nämlich gewisse religiöse Hardliner gerne, sie würden zwar den Sünder lieben, aber nicht die Sünde. Die von Yeats inspirierte Gegenfrage lautet: Wie kann man den «Sünder» von der «Sünde» trennen? Sind die angeblich so sündhaften Handlungen nicht unauflöslich mit dem Wesen von Lesben und Schwulen verwoben?

«Ich hatte das Glück, eine Zeit in New York zu beschreiben, die aus irgendeinem Grund offenbar zu einem Thema der Nostalgie geworden ist.»

Andrew Holleran 2015 in einem Interview

Erstmals veröffentlicht wurde «Tänzer der Nacht» 1978, also fast ein Jahrzehnt nach den Stonewall-Ausschreitungen, die symbolisch am Beginn einer offensiver auftretenden Homosexuellenbewegung stehen. Wer deswegen glaubt, es handle sich bei Hollerans Roman um eine politische Kampfansage oder ein vor Optimismus sprühendes Traktat, der wird rasch eines besseren belehrt.

Zwiespältiges Sittengemälde

Die Stimmung von «Tänzer der Nacht» ist nämlich vergleichbar mit jener von F. Scott Fitzgeralds «The Great Gatsby»: Auf der einen Seite Melancholie, bisweilen gar Verzweiflung angesichts der Oberflächlichkeit hedonistischer Partygänger; auf der anderen Seite ein derart schillernd-schwelgerischer Schreibstil, dass man sich fragt, ob die scheinbare Kritik nicht am Ende selbst blosse Oberfläche ist. Hin- und hergerissen ist Hollerans Roman zwischen Faszination und Ablehnung – und vermag nicht zuletzt deshalb seltsam zu fesseln. Hinzu kommen zwei unvergessliche Hauptfiguren: der junge Anthony Malone, der wie Nick Carraway in «The Great Gatsby» aus dem Mittleren Westen stammt, und Andrew Sutherland, seines Zeichens zynische und zugleich fürsorgliche Drag Queen.

«In gewisser Weise kam jeder, der in den 60er- und 70er-Jahren nach New York kam, aus einem sehr repressiven kulturellen Klima heraus, in dem einem gesagt wurde, es sei besser tot als homosexuell zu sein. Es ist also verständlich, dass alle ein bisschen verrückt geworden sind.»

Andrew Holleran 2015 in einem Interview

In gewisser Hinsicht ist «Tänzer der Nacht» ein Buch aus einer vergangenen Ära: Holleran setzte der freien Liebe (oder genauer: dem freien Sex) in Saunen, Discos und städtischen Parks ein schillerndes literarisches Denkmal, wenige Jahre vor dem Ausbruch der Aids-Epidemie. Unvermindert aktuell bleibt allerdings die Frage, inwiefern «frei» auch «unbeschwert» bedeutet. Was ist mit der Freiheit, sich an jemanden zu binden? Schützen gesellschaftliche Verbote vor der Erkenntnis, dass sexuelles Verlangen ganz grundsätzlich unerfüllbar ist (wie es der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in Metastasen des Geniessens formuliert)? Tanzende Sinnlichkeit und existenzielles Unbehagen: In Tänzer der Nacht bekommt man gleich beides.

Gibt es den auch als Film?

Erstaunlich ist, dass dieser Roman bisher noch die verfilmt wurde, hat er doch einges zu bieten: Ein hübscher, schwuler Junge vom Land, eine zynische Dragqueen, durchtanzte Nächte im Club mit der dazu passenden Discomusik, Sex und Exzess, Drama und Verzweiflung. Es gab zwar einige Anläufe daraus einen Film zu machen, doch die kamen nie in den Produktionsstatus. Es ist allerdings zu hoffen, dass einer der zahlreichen Film-Streamingdienste, die immer auf der Suche nach geeignetem Stoff sind, sich dem noch annehmen wird. Doch wieso auf den Film warten? Der Roman aus der Post-Stonewall-Prä-Aids-Zeit ist heute noch ein Lesegenuss. 

Martin Mühlheim


«Tänzer der Nacht»
Andrew Holleran
Bruno Gmünder Verlag, 2011

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