Bern ist Luftlinie rund 2200 Kilometer von Moskau entfernt!

Der Blog von Daniel Frey

Nachdem Russland Anfang Dezember die LGBTIQ-Community als «extremistisch» eingestuft hat, haben nur einen Tag später in Moskau in queeren Klubs Razzien stattgefunden. Knapp eine Woche später stimmt eine knappe Mehrheit der Parlamentarier*innen im Grossen Rat des Kantons Bern einem Verbot von irreversiblen medizinischen Eingriffen an nicht volljährigen trans Personen zu und ignoriert so die Lebensrealitäten von trans Menschen.

Ende November 2023 an einem Donnerstag: In Russland beschliesst das oberste Gericht auf Antrag des Justizministeriums die Aktivitäten der queeren Bewegung «extremistisch» einzustufen. Das bedeutet: Wer innerhalb einer als extremistisch eingestuften Vereinigung Aktivitäten organisiert, kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden, die Beteiligung an solchen Aktivitäten mit bis zu sechs Jahren. Als «Beteiligung» gilt beispielsweise die Herstellung oder Verbreitung «extremistischer Materialien» – in einem Land, in dem bereits seit rund einem Jahr gesetzlich jegliche «Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen» verboten ist.

Viele queere Menschen in Russland hatten es daraufhin befürchtet: Nur einen Tag nach der Gesetzesverschärfung begannen in der Freitagnacht die Razzien in queeren Klubs in Moskau. Die Polizei fotografierte gemäss von der Zeitung «Nowaja Gaseta» zitierten Augenzeugen Ausweise und es soll auch Festnahmen gegeben haben. Offiziell suchte die Polizei nach Drogen …

Moskau ist Luftlinie rund 2200 Kilometer von Bern entfernt!

Offiziell wollte die Motion 160‑2023 «Das Vorsorgeprinzip anwenden und den Zugang zu irreversiblen Eingriffen zur Geschlechtsumwandlung nur Personen vorbehalten, die nach schweizerischem Zivilgesetzbuch volljährig sind» nur trans Minderjährige schützen. Die Motion umfasste zwei Punkte und wurde im Grossen Rat am vergangenen Mittwoch diskutiert.

Auf Facebook schrieb «unsere» Grossrätin Barbara Stucki: «Manchmal liegen Jubel und Konsternation nah beieinander, im Ratssaal manchmal nur 30 Sekunden auseinander». Mit über 140 JA-Stimmen (und 2 Nein bei 3 Enthaltungen) hat der Grosse Rat der Ausweitung des Beratungsangebots für minderjährige trans Menschen – dem Punkt 2 der Motion – überdeutlich zugestimmt. Mit 76 zu 75 JA-Stimmen und einer Enthaltung hat der Rat aber auch einem kantonalen Verbot von irreversiblen medizinischen Eingriffen an nicht volljährigen trans Menschen – dem Punkt 1 der Motion – zugestimmt und ignoriert so die Lebensrealitäten von trans Personen.

In einer Mitteilung schrieb Transgender Network Switzerland (TGNS), dass das faktische Behandlungsverbot von Parlamentarier*innen unterstützt wurde, die über «keine Expertise in dem Thema verfügen und die Lebensrealitäten von trans Menschen ignorieren». Sollte der Punkt tatsächlich vom Regierungsrat umgesetzt werden, verstösst das Verbot einerseits gegen Bundesrecht und andererseits auch gegen Menschenrechte und Kinderrechte. Zudem sind die medizinische Diagnosestellung und Behandlung mit einer medizinischen Expertise im Einzelfall vorzunehmen und sollte kein politischer Entscheid sein.

Nicht nur trans Personen empfinden diese Abstimmung als direkter Angriff auf ihre Grundrechte. Dass solche Motionen durchkommen, gibt nicht nur zu denken, sondern macht auch wütend und Angst vor einem (konservativen) Backlash.

JA zum Punkt 1 der Motion stimmten die Fraktionen der SVP (auch Thomas Fuchs), der FDP (ausser Claudine Esseiva), der EVP und der EDU. NEIN stimmten die Fraktionen der SP/JUSO, der Grünen und Die Mitte.

Klar angenommen wurde die zweite Forderung der Motion, die nun die Möglichkeit gibt, das tatsächliche Problem von ungenügenden Ressourcen aller Beratungs- und Begleitangebote für trans Jugendlichen, ihren Familien und den Schulen anzugehen. Bleibt zu hoffen, dass der Kanton Bern und vor allem der Regierungsrat, die medizinischen Behandlungsbedürfnisse von trans Jugendlichen und damit das Kindeswohl als fundamentale rechtliche Verpflichtung über den Entscheid von Punkt 1 der Motion stellt und die notwendigen Finanzen für eine verstärkte Begleitung von Jugendlichen auch tatsächlich bereitstellt.

Debatte im Grossen Rat des Kantons Bern: Die Reden der beiden Grossrätinnen Barbara Stucki und Rahel Ruch

 

Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.