Schwedens queere Filmgeschichte

Am 24. und 30. November in der Cinématte

In «Prejudice & Pride – Swedish Film Queer» nimmt die Regisseurin Eva Beling dich mit auf eine Achterbahnfahrt durch die schwedische Filmgeschichte. Sie öffnete alte Kartons und holte Filmrollen heraus, die seit ihrem Erscheinen niemand mehr angeschaut hat. Dabei hat sie Dinge entdeckt, die noch nie jemand gesehen hat.

Die ersten queeren Schritte

Als 1909 im Film «Skilda Tiders Danser» Rosa Grünberg im Gehrock Emma Meissner zum Tanz bittet, war sich wohl keine der beiden Schauspielerinnen darüber im Klaren, dass sie damit Geschichte geschrieben haben. Diese Filmszene ist eines der ersten Beispiele dafür, was man heute einen schwedischen Queer-Film nennen könnte. Doch das war nur der erste, es sollten viele weitere folgen. So viele, dass Eva Beling daraus einen Dokumentarfilm machen konnte, den mensch auf eine wilde und witzige Achterbahnfahrt durch das queere schwedische Filmschaffen mitnimmt.

«Skilda Tiders Danser» (1909) und «Vingarne» (1916)

 

Im Gegensatz zum prüden Hollywood, waren die Filme aus Schweden sowie das ganze Land, schon immer etwas offener im Umgang mit Sexualität und Nacktheit. Wenn man in den 60er- und 70er-Jahren von einem schwedischen Film sprach, meinte man (und damit sind tatsächlich Menschen mit Penis gemeint), es gibt füdliblutte Frauen zu sehen. Doch nackt ist nicht queer. Wann wird ein Film als queer definiert? Wenn er die (Hetero)Norm von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und Beziehung in Frage stellt. Das war oft nicht mal Absicht des Filmemachers. Es ist erst der Blick von heute, der Queeres entdeckt. In den verstaubten Kisten mit Filmrollen und Fotos fand die Regisseurin Eva Beling fast alles, was man als queer definiert. Drag Kings und Drag Queens, Bisexuelle, Schwule und Lesben. Bei der Sichtung war sie auch oft schockiert, über die Art und Weise, wie sie dargestellt wurden: Diese Generationen vor uns, Freunde unserer Freunde, wurden als Ausgestossene behandelt – oder schlimmer noch, völlig ignoriert. Deren Liebe war bis 1944 illegal und galten bis 1979 offiziell als psychisch krank. Ihre Darstellungen auf der Leinwand waren oft zutiefst tragisch, manchmal sogar abstossend. «Aber wir haben auch Lichtblicke gefunden», freut sich Eva Beling. «Schon vor neunzig Jahren zeigten uns Filme, dass auch Frauen einen Smoking tragen können, Zigarren rauchen und Bier aus der Flasche trinken. Männer starkes Make-up und nicht selten Frauenkleidung tragen können. Doch es dauerte dann doch hundert Jahre, bis wir in einem schwedischen Spielfilm einen gleichgeschlechtlichen Kuss sahen».

Mauritz Stiller, Queerfilm-Pionier und Greta Garbo, die Göttliche

Mauritz Stillers «Vingarne» (1916) gilt heute als die erste klare Darstellung männlicher homosexueller Begierden im Film und ist damit auch ein Meilenstein in der internationalen queeren Filmgeschichte. Allerdings war die queere Handlung des Films mit einem älteren männlichen Künstler, der sich in den jungen Mann verliebt, der ihm als Modell dient, für die damalige Zeit gewagt. Die Anziehungskraft des älteren Mannes wird subtil dargestellt, im Vergleich zur Liebesgeschichte des jungen Models mit einer wunderschönen Prinzessin.

Mauritz Stiller und Greta Garbo in «Queen Christina» (1933)

 

Der schwule Mauritz Stiller ist auch der Entdecker von Greta Garbo. Er verpflichtet die Kleindarstellerin und Verkäuferin in einem Warenhaus für den Film «Gösta Berling». Der Stummfilm von 1924 wurde ein grosser Erfolg. Hollywood holte die Beiden nach Amerika. Doch Stiller scheiterte und ging wenige Jahre später zurück nach Schweden, wo er mit nur 45 Jahr an einer Rippenfell­entzündung starb. Die Garbo hingegen kam in Hollywood gross raus. Die Göttliche, wie sie genannt wurde, war der Star von MGM. In fast zwanzig Jahren spielte sie grosse Rollen wie die Mata Hari, die Kameliendame, Anna Karenina, Maria Walewska (die Geliebte Napoleons) und für die queere Welt am wichtigsten, die schwedische Königin Christina, die im Film eine Frau küssen durfte. Dass die nie verheiratet Greta Garbo auch privat lieber Frauen küsste, war ein offenes Geheimnis. Doch drüber gesprochen hat sie nie, wie sie auch sonst nicht viel geredet hat. 1942, sie war erst 37 Jahre alt, nahm sie den Hut und kehrte Hollywood für immer den Rücken. Zurückgezogen lebte sie in New York und in Kloster in der Schweiz, wo manche sie beim Wandern gesehen haben. Ihr Rückzug war so radikal, dass ein Foto von ihr aus dieser Zeit gehandelt wurde, wie eine Aufnahme von Yeti. 1990 starb die göttliche Garbo.

Wenn Queerness durchsickert

Während die schwedische Warenhausverkäuferin in Hollywood zum Star wurde, drehte mensch in Schweden weiterhin Filme für das heimische Publikum. In der frühen Filmgeschichte gab es neben Mauritz Stiller und Greta Garbo weiter Schlüsselfiguren sowohl vor als auch hinter der Kamera, die heute als queer gelten: die Schriftstellerinnen Selma Lagerlöf («Gösta Berling») beispielsweise oder der gutaussehende Schauspieler Nils Asther. Dennoch war es immer noch undenkbar, gleichgeschlechtliche Liebe im Film offen zu zeigen. Vielmehr sind es Details in Filmen mit heterosexueller Grundhandlung, die queere Interpretationen erlaubten, etwa in «Flickan i frack (Das Mädchen im Mantel)» (1926) von Karin Swanström, wo Frauenkollektive mehr als nur Freundschaft beinhalten könnten. Dieser Film enthält auch Cross-Dressing, das oft als komische Technik eingesetzt wurde und zu Geschlechter­verwirrung, aber auch zu queeren Missverständnissen in der Geschichte führt. Beispiele hierfür sind die Komplikationen, die entstehen, wenn sich Birgit Tengroths Heldin in «Atlantäventyret» (1934) als Schiffsjunge verkleidet, und wenn Nils Ericson in «Släkten er värst» (1936) und «Pensionat Paradiset» (1937) Frauenkleider anzieht.

Magda Holm in «Flickan i frack», Nils Asther und Stig Järrel in «Fram för lilla Märta»

 

Eine der erfolgreichsten Cross-Dressing-Komödien in der schwedischen Filmgeschichte ist Hasse Ekmans «Fram för lilla Märta» (1945), in dem Stig Järrel einen arbeitslosen Musiker spielt, der Frauenkleider anzieht, um einen Job in einer Frauenkapelle zu bekommen. Sowohl wenn er von einem männlichen Verehrer umworben wird als auch wenn er selbst versucht, eine seiner Mitmusikerinnen zu bezaubern, kommt es zu Komplikationen, die als queer interpretiert werden können.

Zwei Giganten über das unmögliche lesbische Glück

Als sich die beiden Regisseure Hasse Ekman und Ingmar Bergman in den 1940er Jahren etablieren, schaffen sie Raum für explizite homosexuelle Charaktere. Im Abstand von einem halben Jahr wurden Bergmans «Törst (Durst)» (1949) und Ekmans «Flicka och hyacinth (Girl and Hyacinth)» (1950) uraufgeführt. Beide Filme schildern tragische lesbische Schicksale, die in den Selbstmord münden. In «Törst» wird die Figur Viola in einer Episode des Films von einer anderen Frau verführt, was dazu führt, dass sie sich das Leben nimmt. Ekmans Film beginnt mit dem Selbstmord der unglücklichen Dagmar Brink, woraufhin das, was zuvor geschah, in einer Reihe von Rückblenden nacherzählt wird. Erst in der letzten Szene offenbart sich das queere Motiv. Allerdings war das Thema der lesbischen Liebe für damalige Kinobesucher so ungewöhnlich, dass es laut einer Zuschauerbefragung für einen grosser Teil des Publikums über den Kopf stieg.

Ingmar Bergmans «Törst», 1949 und Hasse Ekmans «Flicka och hyacinth», 1950

 

 

Die Bedrohung der Mehrheits­gesellschaft

Im Jahr 1944 werden homosexuelle Handlungen entkriminalisiert, sie sind jedoch noch lange nicht gesellschaftlich akzeptiert. In den 50er und 60er-Jahren waren Darstellungen sexueller Minderheiten in Filmen, sofern sie überhaupt vorkommen, entweder etwas Komisches zum Lachen oder etwas Tragisches und Erschreckendes, das die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft herausforderte. Ein Beispiel sind die jungen Männer, die ältere Schwule verprügeln und ausrauben in Arne Ragneborns Film «Farlig frihet (Gefährliche Freiheit)» von 1954.

In Egil Holmsens «Hästhandlarens flickor (Die Mädchen des Pferdehändlers)» (1954) haben zwei junge Frauen eine liebevolle Beziehung und küssen sich auch beim Baden zwischen Seerosen – der schwedischen Variante der Lotusblume, die mit lesbischer Liebe assoziiert wird. Allerdings wird das Bild der lesbischen Liebe dadurch verkompliziert, dass es sich bei den betreffenden Frauen um Schwestern handelt. Eine ähnliche Szene findet sich in Mai Zetterlings Spielfilmdebüt «Älskande par (Liebendes Paar)» (1964), als sich eine Internatslehrerin ungewollt einem Mädchen nähert, indem sie es versucht zu küssen. Ein männliches Paar im selben Film wird lockerer dargestellt, als es während einer Hochzeitsprobe in einer Kirche miteinander die Ringe austauscht.

Mai Zetterlings «Älskande par», 1964

 

 

Vielschichtige Darstellungen

Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 1960er-Jahre entstehen in vielen Ländern Filme, in denen die Hauptrollen homosexuell sind und die Darstellungen vielschichtiger sind. Auch in Schweden gibt es Bestrebungen, ein differenzierteres Bild zu vermitteln. Vilgot Sjöman, der sich in früheren Filmen mit dem Thema der gleichgeschlechtlichen Anziehungskraft beschäftigte, dreht 1977 «Tabu», in dem er alle Arten von LGBTQ-Personen in eine gemeinsame politische Manifestation einbeziehen wollte. Allerdings ist die Darstellung zumindest insofern problematisch, als darin auch Pädophile und Nekrophile enthalten sind. Sjöman «erweist den sexuellen Minderheiten keinen Gefallen», war damals in einer Zeitung zu lesen.

Als Gegenreaktion übernehmen zwei queere Filmkollektive selbst die Kontrolle darüber, wie ihr Leben dargestellt wird. Die Kurzfilme «Bögjävlar» (1977) und «Eva och Maria» (1983) sind positive und alltägliche Darstellungen von Homosexualität. Die Filme werden in einer wichtigen Zeit gedreht, in der unter anderem 1977 die erst Homosexuelle Befreiungs­demonstration stattfand und das Gesundheits­ministerium 1979 die Krankheits­kennzeichnung für Homosexuelle abschafft.

Zeitgenössisch – von Åmål bis Georgien

1998 wurde «Fucking Åmål» von Lukas Moodysson uraufgeführt. Der Film spielt in einer Kleinstadt und zeigt zwei Mädchen im Teenageralter, die sich verlieben. Er wird ein grosser Erfolg und zeigte, dass ein queerer Film auch ein Publikum ausserhalb der LGBT-Community erreichen kann. Er gewinnt den Teddy Award der Berliner Filmfestspiele und ist damit der erste schwedische Film, der mit einem reinen LGBT-Preis ausgezeichnet wird. «Patrik 1.5» (Ella Lemhagen, 2008) erlangt wegen seiner Darstellung der gleichgeschlechtlichen Adoption Aufmerksamkeit. Auch «Kiss mig (Küss mich)» (2011) von Alexandra-Therese Keining findet Beachtung, da die Liebe zwischen zwei erwachsenen Frauen noch ein relativ ungewöhnliches Thema ist.

«Fucking Åmål», 1998 und «Nånting måste gå», 2014

 

Die Darstellungen von Transidentitäten sind immer noch sehr selten, daher sind Victor Lindgrens «Ta av mig (Zieh mich aus)» (2013), Ester Martin Bergsmarks «Pojtanten» (2012) und «Nånting måste gå sönder (Something Must Break)» (2014) bahnbrechend, da Trans-Menschen auch an der Filmproduktion beteiligt sind. Einer der meistdiskutierten Filme des Jahres 2019 zeigt die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen zwei georgischen Tänzern. «And Then We Danced» von Levan Akins feiert seine Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Cannes und wurde für die Queer Palm nominiert.

Das Coming-out des schwedischen Films

Es ist 110 Jahre her, seit die ersten queeren Schritte im schwedischen Film unternommen wurden. Komm mit auf die filmische Reise von der Entstehung des ersten queeren Films im Jahr 1916 über Bergman und Zetterling bis zu unseren Tagen, in denen queere Menschen endlich ihren rechtmässigen Platz in der schwedischen Filmgeschichte erhalten. Zu sehen in Eva Belings «Prejudice & Pride – Swedish Film Queer» sind Filmausschnitte aus dem Archiv des Schwedischen Filminstituts die sich mit Interviews abwechseln. Zu Wort kommen Filmschaffende wie Harriet Andersson, Liv Ullmann, Kjell Bergqvist, Bruce LaBruce, Daniel Humphrey, Jan Hammarlund, Louise Wallenberg, Björn Kjellman und viele mehr. Vielleicht wirst du bei manchen Szenen die Faust in der Tasche machen, aber du wirst auch über die Verrückten lachen und Wohlwollen und Verständnis erleben, auch wenn sie manchmal peinlich oder banal sind. Vor allem, verspricht die Filmemacherin, wirst du schwedische Film nie wieder auf die gleiche Weise sehen.


PREJUDICE & PRIDE – SWEDISH FILM QUEER (FÖRDOM & STOLTHET)

Regie: Eva Belin
Dokumentarfilm, SWE/FIN/ISL 2022
Schwedisch mit deutschen Untertiteln

Am 24. und 30. November in der Cinématte

 

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