Isabel von Queersicht: «Das Programm konstruiert neue Räume für mehr Vielfalt»

Queersicht LGBTIAQ*-Filmfestival 2.– 8. November 2023

José hat sich mit Isabel von Queersicht getroffen. Sie wählt zusammen mit einem Team die Filme für das LGBTIAQ*-Filmfestival aus. Während der Programm­gestaltung sei die Suche nach Perlen eine schöne Phase. Sie ist begeistert «wie stark queere Menschen sein können, wie viel Transformations­potential in ihnen steckt».

Das Berner Filmfestival Queersicht präsentiert in ihrer diesjährigen Ausgabe eine breite Auswahl an queeren Filmperlen. Das Organisationsteam verspicht Kunst, Vielfallt und vor allem viel Queerness: 37 Filme und 30 Kurzfilme werden auf den Berner Leinwände vom 2. bis 8. November flimmern. Doch wie wird die Filmauswahl für das Programm entschieden? Diese Frage musste ich unbedingt Isabel Vidal stellen. Aus diesem Grund habe ich sie zu mir eingeladen für ein Interview. Isabel ist Teil des sechsköpfigen Programmationsteams des Queersicht Filmfestival.

Es klingelt in meiner Wohnung und ich öffne meine Haustür – voilá! Da steht sie humorvoll vor mir und reicht mir freundlich ihre Hand als Begrüssung. Nach wenigen einführenden Worten offeriere ich ihr Cola, Ice Tea, Kaffee oder Wasser mit Kohlensäure, aber Isabel entscheidet sich für Leitungswasser, um sich etwas zu erfrischen. Wir setzen uns auf meine blauen Sofas, das Sonnenlicht scheint durch die Fenster in die Stube hinein, und wir beginnen mit dem Interview. Das definitive Programm für die diesjährige Ausgabe gibt es, laut Isabel, nicht lange: «Es wurde erst seit Mitte September bestätigt».

Um eine spannende und reflektierte Filmauswahl zu treffen, braucht es viel Zeit. Dadurch bringt die Planung eine grosse Dringlichkeit mit sich — zwischen der Auswahl und der Bestätigung des Programms. «Zu Beginn des Prozesses empfinde ich grossen Druck – schliesslich sollen Menschen durch Queersicht neues erleben, entdecken und sehen. Wir haben unser Wunschfilmprogramm Anfang August zusammengestellt. Danach müssen wir schnell schauen, was wir schlussendlich tatsächlich auf die Leinwand projizieren können. Mitte September steht dann das definitive Programm».

«Wir versuchen so viele queere Realitäten wie möglich zu zeigen»

Unter Zeitdruck zu arbeiten ist das eine, aber um sich in der Programmgruppe zu engagieren braucht es vor allem ein grosses Interesse am Kino und queere Thematik: «Die Suche nach Perlen ist eine schöne Phase, in der wir Zugang zu allen Filmen haben. Klar gibt es auch schlechte Filme, aber diese Zeit ist unglaublich spannend. Ab Februar haben wir eine Liste von allen Festivals, bei denen wir nachfragen können, und sind dann ungefähr 5 Monate auf der Suche». Eins ist bei der Filmauswahl klar: queere Menschen müssen Protagonist*innen sein: «Wir versuchen so viele queere Realitäten wie möglich zu zeigen und eine breite Auswahl an Genres und Produktionsländer dabei zu haben.»

Innerhalb der ersten Phase, recherchiert und visualisiert das Organisationskomitee Filmmaterial. Die Hauptverantwortung tragen hier die Filmperlensuchenden, dass «eine sehr proaktive Arbeit macht: Recherchen, Visualisierungen, Feedback suchen, Diskussionen führen, Rechte nachfragen, usw.».

Im Team werden auserwählte Filme vorgestellt und es entstehen, so Isabel, spannende Diskussionen und Kontroversen. «Queerness» ist die Hauptforderung am Film bei der Auswahl – und dies auf hohem Niveau, denn nicht alle, als queer kategorisierte Filme, werden in die engere Auswahl genommen: Beispielsweise, «im Festival de Cannes hatten einige für die Queer Palm ausgewählte Filme Queerness nicht im Zentrum».

«Ich interessiere mich sehr für Dokumentarfilme oder politische Filme»

Für Isabel sind die unterschiedlichen Perspektiven, die innerhalb des Programmationsteams zu finden sind, wichtig: «Ich interessiere mich sehr für Dokumentarfilme oder politische Filme, andere haben ein gutes Gefühl für Drehbücher oder andere haben einen speziellen Sinn für Ästhetik. Nur so kann ein gutes Programm entstehen». Bei der Vorbereitung des Programms schaut das Team, abgesehen von der Qualität und der Queerness, auf die Gewichtung von Männerliebe, Frauenliebe und Non-Binarität. «Jedes Jahr machen wir die Beobachtung, dass der Anteil von Neuerscheinungen, bei denen schwule, weisse, cis Männer die Hauptdarsteller sind, immer der grössere Anteil der queeren Filmproduktion ist». Das viele schwule Filme produziert werden ist positiv, zeigt aber gleichzeitig auf, dass Frauenliebe und Genderqueere in der Filmproduktion zu wenig Achtung erhalten. Mag ein Film auch sehr gut sein, wird aber durch ihn eine der drei Kategorien zu stark gewichtet, dann wird dieser Film nicht ins Programm aufgenommen: «Am Ende ist das Programm eine Selektion, die auf Qualität, Queerness und Diversität basiert».

«Wir haben beim Programm einen Schwerpunkt auf nicht binäre Menschen gesetzt. Wir möchten zeigen, dass es nicht-binäre Menschen auf der ganzen Welt gibt.»

Für die Filmauswahl war ein weiterer Aspekt wichtig: Aufgrund des Entscheids des Bundes das dritte Geschlecht nicht aufzunehmen, hat sich das Festival dafür entschieden «beim Filmprogramm einen Schwerpunkt auf nicht-binäre Menschen zu setzen. Wir möchten zeigen, dass es nicht-binäre Menschen auf der ganzen Welt gibt». Im Programmationsteam von Queersicht beteiligen sich nicht nur, aber vor allem Schwule, Bisexuelle und Lesben. Isabel fehlt es dementsprechend etwas an Diversität innerhalb des Teams. Aus diesem Grund visualisieren Menschen ausserhalb des Teams Filme und geben anschliessend dem Team ein Feedback. So werden andere Perspektiven für die Filmauswahl berücksichtigt.

Isabel ist mit dem diesjährigen Programm von Queersicht zufrieden «Es hat ein paar wahre Perlen dabei! Ich finde es sehr schön wie stark queere Menschen sein können, wie viel Transformationspotential in ihnen steckt». Vor allem ist es für Isabel «ein Festivalprogramm in dem gesagt wird, dass wir gemeinsam ein gutes Leben führen können und das neue Räume für mehr Vielfalt konstruieren»


Drei Festivaltipps von Isabel

Tipp 1: «All colours of the world are between black and white»

Ein ein wunderschönes, aber auch intensives Drama. Der Film zeigt, wie sich Homosexualität im homofeindlichen und gewaltvollen Nigeria abspielt. Für Isabel ist dieser Film etwas spezielles: «Mich fasziniert die Liebe und Ruhe im Kontrast zur Homofeindlichkeit und Gewalt» die im Film gezeigt wird.

Tipp 2: «Soft»

Es handelt sich hierbei um einen Dokumentarfilm über queere Kinder. Was für Isabel speziell spannend bei diesem Film ist, dass «der Regisseur die Kinder nicht, wie üblich, von oben filmte, sondern die Perspektive wechselte und im Film die Kinder von unten zeigt» Es ist für Isabel immer wieder überraschend zu sehen, wie stark die Persönlichkeit Kinder sei.

Tipp 3: «Orlando, Ma biographie politique»

In diesem Dokumentarfilm wird mit einem neuen Format experimentiert. Menschen kommen hier auf eine kreative und spielerische Weise zu Wort. Für Isabel strahlt der Film «Freude und Hoffnung aus».


 

bern.lgbt präsentiert: «Passages» von Ira Sachs

Auch bei der diesjährige Ausgabe des LGBTIAQ*-Filmfestival Queersicht darf bern.lgbt einen Film präsentieren: Ira Sachs «Passages» mit Franz Rogowski, Ben Whishaw und Adèle Exarchopoulos in den Hauptrollen. Im Beziehungsdrama geht es um den Filmemacher Tomas, der mit seinem Ehemann Martin in Paris lebt. Ob sie glücklich sind? Das ist vielleicht fraglich, den Tomas begibt sich auf den Pfad der Untreue. Seine Affäre mit der jungen Lehrerin Agathe überschreitet eine Grenze in seiner Beziehung zu Martin. Doch erst als Martin ebenfalls eine Affäre eingeht, wird Tomas bewusst, dass er in einem Strudel von nahezu unkontrollierbarer Eifersucht gefangen ist. Immer deutlicher wird ihm, dass er eine Entscheidung treffen muss: Entweder die Regeln einer monogamen Ehe respektieren oder sich damit abfinden, dass er und Martin möglicherweise nicht mehr gemeinsam durchs Leben gehen können.

Am Samstag, 4.11., 15.30 Uhr im Lichtspiel und Montag, 6.11., 20.30 Uhr im Kino Rex


Programm, Tickets und Infos: www.queersicht.ch

 

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