Queere Politik: «Mut zu Reformen!»

Wahlen 2023

Am 22. Oktober wird der National- und Ständerat der Schweiz gewählt. Unter den Kandidierenden sind auch viele queere Menschen. Der Verein hab queer bern hat sich bei denen, die sich in Bern der Wahl stellen, erkundigt, wie sie politisch ticken und wie sie queere Anliegen vertreten wollen. Allen gemeinsam ist, dass ihnen die Sichtbarkeit ihrer queeren Identität wichtig ist.

776 Personen treten am 22. Oktober den Kampf um die 24 kantonalbernischen Sitze im Nationalrat an. Und wie immer vor Wahlen verschickte die AG Politik von hab queer bern auch in diesem Jahr einen Fragebogen an die für den Nationalrat kandidierenden Queers – um zu erfahren, wie diese politisch ticken. Und wie nicht anders zu erwarten war, herrschte (fast) Einigkeit darüber, dass u. a. Konversions­behandlungen verboten, Hate Crime statistisch erfasst und bekämpft, dass die Rassismus-Strafnorm um den Schutz aufgrund der Geschlechtsidentität erweitert und eine sogenannte «dritte Option» – nebst «männlich» und «weiblich» – eingeführt werden sollte.

«Wie könnte unser Verein dich unterstützen», haben wir auf unserem Fragebogen ebenfalls gefragt. Auch hier waren sich die Politiker*innen einig. So schrieb etwa Ursina Anderegg: «Es braucht Druck von möglichst vielen Seiten auf die Politik, damit wir mit unseren Forderungen vorankommen, deshalb finde ich es super, dass sich hab queer bern mit der AG Politik hier engagiert».


Queere Sichtbarkeit

Für alle Kandierenden für den Nationalrat ist die Sichtbarkeit ihrer queeren Identität wichtig, und alle leben offen. «Im Alltag, bei der Arbeit, in der Politik», wie Barbara Schwickert in ihrem Fragebogen notierte. «Ich verstecke und verstelle mich nicht», schrieb Elisabeth Dubler. Und Sam Müller-Zwahlen vermerkte auf seinem Fragebogen, dass er versuche, sich grundsätzlich nicht anders zu verhalten, als wenn er hetero wäre. Doch sei er sich bewusst, dass deshalb die Wahrscheinlichkeit für negative Reaktionen grösser ist: «Das kann Stress verursachen und belasten». Sein Ehemann Christian Müller-Zwahlen brachte es kurz und bündig auf den Punkt: «Ich bin mich selbst und verhalte mich in der Öffentlichkeit nicht anders».

Für Barbara Stucki ist die Sichtbarkeit von queeren Lebensentwürfen vor allem auch deshalb wichtig, weil sie nur so in der nicht-queeren Gesellschaft zur Normalität werden: «Entsprechend bin ich überall in meinem Leben geoutet!».

«Ein paar Tage nach meinem öffentlichen Outing ist eine junge Frau im Zug zu mir ins Abteil gesessen und hat geflüstert ‹Ich imfall auch, aber ich habe es noch niemandem gesagt›. Für sie und all die jungen queeren Menschen werde ich immer sichtbar bleiben. Damit sie es allen sagen können, ohne Angst zu haben, damit sie Vorbilder haben. Damit sie wissen, dass sie nicht allein sind.»
Tamara Funiciello

Drei Personen, die unseren Fragebogen ausgefüllt haben, reihen sich nicht ins binäre Geschlechtersystem ein. «Ich lebe offen als nichtbinäre Person», notierte Catherine Meyer im Fragebogen: «Dies kommuniziere ich öffentlich – etwa auch beim Arbeitgeber». Sofia Fisch schrieb: «Ich bin offen queer und verstehe dies auch als Teil meiner politischen Identität». Sofia ist überzeugt, dass die Lebensrealitäten von queeren Personen in unserer Gesellschaft nicht länger unsichtbar gemacht werden dürfen. «Ich hätte mir als Kind gewünscht, queere Personen zu sehen.» Sofia sieht ihre queere Sichtbarkeit als Privileg und ist sich bewusst, dass es queere Personen gibt, «die sich schützen müssen und einen Teil ihres Selbst nicht öffentlich sichtbar machen können».

Jakub Walcak definiert sich ebenfalls als nichtbinäre Person und ist in praktisch allen Lebensbereichen offen, in der Schule, bei der Arbeit, in der Politik und in den meisten Teilen seiner Familie. An manchen von diesen Orten jedoch nur bezüglich seiner sexuellen Orientierung, nicht aber seiner Geschlechtsidentität.

«Sichtbarkeit von queeren Menschen finde ich sehr wichtig für den gesellschaftlichen Normalisierungsprozess. Durch meine Sichtbarkeit als queere Person versuche ich, hier einen Beitrag zu leisten. Allerdings wäge ich immer ab, in welchem Kontext ich mein Queersein, weshalb und auf welche Art sichtbar mache oder eben auch nicht.»
Ursina Anderegg

Christian Gremaud kommt aus der französischsprachigen Schweiz, ist gehörlos und seit 16 Jahren mit seinem hörenden Partner zusammen. Er gehört damit – wie er im Fragebogen schrieb – zu einer dreifachen Minderheit. Und er stellt leider fest, dass queere Menschen sehr wenig mit Menschen mit Behinderungen sprechen und entsprechend Menschen mit Behinderungen gerade auch innerhalb der queeren Community nicht sichtbar sind.

«Wichtig ist mir einfach, dass es nicht bei der Sichtbarkeit bleibt: Wir brauchen konkrete Massnahmen gegen Diskriminierung, Hass und patriarchale Strukturen.»
Rahel Ruch


Queere Politik

Eine wichtige Frage auf unserem Fragebogen war die Frage nach dem persönlichen politischen Profil. Zusammenfassend: Alle Politiker*innen, die unseren Fragebogen ausgefüllt haben, sind klar der Meinung: «Es gibt noch viele offene queerpolitische Themen!». Für Elisabeth Dubler ist besonders der Schutz von trans, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen vor Diskriminierung und Gewalt wichtig: «Zudem setze ich mich dafür ein, dass geschlechtsangleichende Operationen an Kleinkindern verboten werden». Rahel Ruch ist es wichtig, die Rechte von queeren Personen überall zu stärken, aber vor allem auch dort, wo mensch weniger hinschaut, z. B. im Asylwesen oder in den Gefängnissen: «Für mich ist es zentral, dass wir uns nicht nur für zu weiten Teilen privilegierte Lesben wie mich engagieren, sondern auch für jene Queers, die an den Rand gedrängt werden».

«Gerade trans Menschen haben es in unserer Gesellschaft schwer, und dies muss sich schlagartig ändern.»
Michaela Bajraktar

Tamara Funiciello ist überzeugt, dass wir im Moment gerade einen riesigen Backlash erleben: «Wir müssen die Bekämpfung von Gewalt nicht propagieren, sondern auch das nötige Geld in die Hand nehmen, damit wir die nötigen Massnahmen ergreifen können – wie etwa Schlupfhäuser für queere Menschen». Verbessert werden müsste zudem der Gesundheitszustand unserer Community. Dazu brauche es Aufklärung, Prävention und niederschwellige Angebote.

«Gewalt und Hetze gegen Queers sind leider noch eine bittere Realität. Repräsentative Daten sind relevant, um Queerfeindlichkeit benennen zu können. Dies kann ein nationales Meldeverfahren gewährleisten – ein Anliegen, das in der letzten Legislatur vom bürgerlichen Ständerat verhindert wurde.»
Sofia Fisch

Als Grossrätin im Kanton Bern hat Barbara Stucki Vorstösse zum Schutz vor Hate Crime und vor Konversions­behandlungen eingereicht, «welche von der gesamten GLP-Fraktion unterstützt wurden», wie Barbara Stucki in ihrem Fragebogen betonte. «Wir haben nun griffige gesetzliche Grundlagen, um solches Verhalten zu ahnden», schrieb sie weiter. Dabei wäre das Ziel , «dass wir queeren Menschen gar nicht erst angegriffen werden».

Ganz klar sprechen sich die Politiker*innen, die unseren Fragebogen ausgefüllt haben, für ein Verbot der Konversionsbehandlungen aus – und benutzen dabei Adjektive wie «schlimm», «fragwürdig» und «menschenverachtend». Auch für Mia Willener sind die Themen Hate Crime und Konversions­behandlungen Schwerpunkte auf ihrer Politagenda, aber auch die «Klärung der Situation von trans bzw. inter­geschlechtlichen Sportler*innen».

Janosch Weyermann betonte, dass seine Partei «für Freiheit und Eigenverantwortung» stehe und daher für die Themen Hate Crime und Konversions­therapie «wenig übrig» habe. Allerdings sei er der Meinung, dass Hate Crime «wie alle anderen Straftaten» auch erfasst werden sollten. Und bei den Konversions­therapien sei er «zwiegespalten», da es grundsätzlich bereits heute strafbar sei, jemensch «zu nötigen, sich einer solchen Therapie zu unterziehen». «Allerdings wäre ein Verbot ein Zeichen, dass Homosexualität definitiv nicht therapiert werden kann».

Nebst der statistischen Erfassung von Hate Crime gegenüber queeren Personen ist auch die Erweiterung des Diskriminierungs­schutzes in der Rassismus-Strafnorm sehr wichtig. Jakub Walczak: «Auch ein Verbot von Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität von trans Menschen gehört in den Artikel 261 des Strafgesetzbuches».

Ausführlich listete auf dem Fragebogen Dyami Häfliger seine Forderungen an die Politik auf. Sein Ziel dabei ist ein «lückenloser Diskriminierungsschutz und ein Ende von Konversions­behandlungen». Dabei fordert er eine «staatliche Unterstützung bei Diskriminierung und Gewalt, eine Sensibilisierung im Schulunterricht sowie von Behördenmitarbeitenden».

«Wir brauchen Mut zu Reformen und politische Massnahmen für 100 Prozent Gleichberechtigung aller Menschen.»
Dyami Häfliger

«Besonders nahe geht mir, wenn queere Schüler*innen in der Schule nicht zu sich stehen dürfen bzw. können und Ablehnung erfahren – weil ich das selbst erfahren habe», notierte Sam Müller-Zwahlen: «Ich möchte, dass die Rahmenbedingungen sich so ändern, dass das möglichst nicht mehr vorkommt». Dazu braucht es auch hier «mehr Ressourcen für Aufklärungsund Sensibilisierungs­arbeit», wie Ursina Anderegg quasi ergänzend in ihrem Fragebogen schrieb.

Ein ebenfalls wichtiges Thema ist die Einführung einer «dritten Option» – nebst eben «männlich» und «weiblich». Dabei wird eine «dritte Option» als Übergangslösung angeschaut, denn eigentlich ist das langfristige Ziel die Abschaffung des Geschlechtseintrags im Zivilstand­register und der Verzicht eines Eintrags in amtlichen Dokumenten.

Die Antworten wurden  von Daniel Frey von hab queer bern zusammengefasst.


Namen und Parteien der Menschen, die den Fragebogen ausgefüllt haben

Ursina Anderegg, Grüne
Michaela Bajraktar, JUSO
Elisabeth Dubler, Grüne
Sofia Fisch, SP
Tamara Funiciello, SP
Christian Gremaud, SP
Dyami Häfliger, GLP
Catherine Meyer, Grüne
Christian Müller-Zwahlen, Grüne
Sam Müller-Zwahlen, GLP
Rahel Ruch, Grüne
Barbara Schwickert, Grüne
Barbara Stucki, GLP
Jakub Walcak, SP
Janosch Weyermann, SVP
Mia Willener, Die Mitte


Queere Forderungen an die Politik

  • Verbot von Konversionstherapien – nicht nur bei Minderjährigen
  • Einführung eines Monitorings und Stellen, um Hate Crime an queeren Personen zu erfassen und zu bekämpfen
  • Ausweitung des Diskriminierungsschutzes aufgrund der Geschlechtsidentität im Strafgesetzbuch (Rassismus-Strafnorm)
  • Einführung einer dritten Geschlechtseintragungsmöglichkeit resp. langfristig die Abschaffung des Geschlechtseintrags im Zivilstandsregister und amtlichen Dokumenten
  • Absicherung von lesbischen Familien, wenn sie auf eine private Samenspende zurückgreifen
  • Verbot von Zwangsoperationen an intergeschlechtlichen Kindern
  • Ausbildung und Sensibilisierung zu queeren Sexualitäten und Identitäten im Gesundheitsbereich
  • Staatliche Unterstützungsbeiträge für queere Interessensgruppen
  • Queersein als Asylgrund anerkennen
  • Verbesserung der Situation von queeren Menschen in Gefängnissen
  • Mehr Studien bezüglich der Situation queerer Personen in der Schweiz

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