«20’000 Arten von Bienen» und die Vielfalt der Menschen

Ab 21. September im Kino

Herman Kocher hat sich zusammen mit der Transfrau Regina den Film «20’000 Arten von Bienen» der Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren angeschaut. Er erzählt vom Finden der passenden Geschlechtsidentität eines Kindes. Anschliessend haben sie sich über den Film unterhalten. Besonders gefiel ihr am Film der Verzicht auf Pathologisierung.

«Mein echter Name ist Lucía» − mit diesem Ruf offenbart sich ein achtjähriges Kind gegenüber einer Freundin. Bei Geburt wurde ihm der Name Aitor gegeben, gerufen wird es Cocó. Mit beiden Namen fühlt es sich nicht verstanden. Mit seinem langen Haar wird es da und dort nicht nur als Mädchen gesehen, sondern liest sich selbst als ein solches.

Lucía verbringt mit der Familie ein paar Ferientage bei Verwandten im spanischen Baskenland. Immer stärker grübelt sie darüber nach, dass mit ihr im Bauch der Mutter etwas falsch gelaufen sein müsse. Immer grösser wird ihre Verzweiflung darüber, nicht sich selbst sein zu dürfen. Sie klagt mehrfach über Bauchschmerzen und findet ihre Zehen oder ihre Finger hässlich. Als Lucía ihre Mutter fragt, ob sie wie ihr Vater werde, wenn sie einmal gross sein werde – was sie keinesfalls anstrebte −, beruhigt diese sie zwar, sie könne so sein, wie sie wolle. Zudem stellt sie sich hinter ihre Tochter und weist den Vorwurf, sie müsse diese stärker in die Schranken weisen oder ihr endlich eine «Jungenfrisur» verpassen, zurück. Letztlich ist die Mutter aber zu stark mit ihren Eheproblemen und ihrem beruflichen Fortkommen beschäftigt, um sich wirklich um die Not ihrer Tochter zu kümmern.

Die Grossmutter versichert Lucía auf ihre Frage, warum sie «so» sei, Gott habe jeden Menschen vollkommen geschaffen. Hilfreicher ist ihr die Ansicht eines Verwandten, Glaube sei (im Gegensatz zu äusserlichen Formeln) eine Überzeugung, die man tief im Herzen drinnen spüre. Und vor allem die Begleitung durch ihre Grosstante, die ihr zuhört und als Imkerin am Beispiel des Lebens der Bienen vermittelt, wie dort bestehe auch bei Menschen eine Vielfalt von (Lebens-)Formen und Aufgaben in einem sozialen System. Besonders berührend ist die Szene, in der Lucía ihre Grosstante fragt, ob sie sterben und als Mädchen zur Welt kommen könne, und diese ihr zur Antwort gibt: «Du bist schon ein Mädchen, und wunderschön.»

Der Coming of Age-Film mit dem Fokus des Findens der passenden Geschlechtsidentität ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie ein (junger) Mensch lernt, für sich zu kämpfen gegen massive Widerstände, wie er Sprache findet für das, was ihn im Tiefsten ausmacht. Und wie kein Kind sich für sein Leben schämen müsse, wie die Grosstante Lucía versichert. Andererseits zeigt der Film den ganzen Strauss von Reaktionen des Umfeldes auf die Transition eines Kindes: von Überforderung über Ablehnung bis hin zur Stützung und Ermutigung, auch im Kontext einengender religiös-kultureller Traditionen.

Die 1984 in Bilbao geborene Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren hat ein beeindruckendes und zugleich subtiles Erstlingswerk vorgelegt. Laut Aussage in einem Interview entsprang es «dem Bedürfnis, die Grenzen des starren Geschlechtersystems in Frage zu stellen». Im Vorfeld der Produktion war sie im Kontakt mit rund zwanzig Familien mit Kindern, die mit der Suche nach der ihnen entsprechenden Geschlechtsidentität ringen. Der Film lebt jedoch nicht zuletzt von der grossartigen schauspielerischen Leistung von Sofía Otero, die die Person von Aitor/Cocó/Lucía verkörpert. Zurecht wurde sie an der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Hermann Kocher, Vizepräsident Interfilm Schweiz


Rückfragen zum Film an die Transfrau Regina K.

Hermann Kocher: Was empfindest du oder geht dir durch den Kopf, nachdem du diesen Film gesehen hast?
Regina K.: Der Film hat mich in Bann gezogen und emotional sehr bewegt. Obwohl ich selber keine Transkindheit durchgemacht habe, weiss ich um die Gefühle des Andersseins bereits in der Kindheit. In meinem Fall ist dies mir erst sehr viel später ins Bewusstsein gekommen als bei Lucía im Film. Ich kann mir gut vorstellen, dass es viel mehr Kindern so geht als man denkt. Ist doch jeder Mensch einzigartig und somit anders als die anderen. Zusammenfassend empfinde ich die Handlung in diesem Film durchwegs sehr eindrücklich, einfühlsam, plausibel und realistisch

Was hat dich speziell beeindruckt?
Was ich an diesem Film besonders positiv finde, ist der Verzicht auf Pathologisierung. Da braucht es keinen Kinderpsychologen, Kinderpsychiater oder sonstige medizinische Abklärungen und Untersuchungen. Klar würden dann später auch bei Lucía Fragen im Zusammenhang mit Hormonen und körperlicher Entwicklung auftauchen, aber in diesem Film geht es zunächst mal um Lucía als Persönlichkeit, die sich findet, was ich echt super finde!

Wie beurteilst du die Reaktionen des familiären Umfelds von Lucía?
Einige sind liebevolle Menschen mit Aufmerksamkeit und Verständnis (im Film die Grosstante oder die Freundin), die Lucia helfen, das nötige Selbstvertrauen und sich selber zu finden. Wie einfach und natürlich das doch eigentlich ist! Auch die Mutter hat sich bemüht, so gut es geht, und der Vater ist auch nicht der schlechteste. Man beachte, wie die Eltern mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen und den eigenen bisherigen Prägungen klarkommen müssen und unter Druck sind. So kommen für mich auch die Eltern durchaus realistisch rüber.

Der Film legt grosses Gewicht auf die Bedeutung des Namens des Mädchens …
Mich beeindruckt, wie Lucía sich zunächst als Cocó von ihrem Geburtsnamen Aitor abkoppelt und sich klar als Mädchen zu positionieren sucht, um dann als Lucía zu sich selbst zu finden. Die Szene am Schluss, wie Lucía das Familienfest verlässt und zu den Bienenstöcken geht, bleibt in mir haften. Da spürt man, dass sie weiss, wer sie ist und stolz darauf ist, und dass sie entschlossen ihren Weg gehen wird. Wie wichtig der Name ist, kann ich nur zu gut nachempfinden − und wie verletzend es sein kann, wenn jemand das partout nicht akzeptieren oder respektieren kann oder will. Von denen möchte man sich dann eigentlich nicht mehr finden lassen (wenn ich an die Suchaktion im Film denke).

Der Film pendelt auch zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Es ist interessant, wie der Film der Gesellschaft den Spiegel vorhält, wenn die «göttliche Ordnung» plötzlich durch ein Kind in Frage gestellt wird. Da kommt der Reflex, «die vermeintliche Ordnung» als die richtige durchsetzen zu wollen, und was nicht passt, passend zu machen. Da wird unter Erklärungsdruck gesetzt, wer dem nicht entspricht, vielleicht gar gut gemeint, aber eben nur gut gemeint und somit zumindest ungut mit Tendenz zu schlimm. Kinder scheinen oftmals viel weniger Probleme mit Akzeptanz des «Andersseins» zu haben (z.B. das Mädchen im Film, das einfach feststellt, es kenne einen Jungen mit einer «Mumu»). Irgendwie scheint der Mensch mit dem Erwachsenwerden seine unschuldige Freiheit zu verlieren. Sind es nicht oft Kinder, welche die Erwachsenen mit ihrer Art vor allzu viel Verkrustung bewahren? (Herbert Grönemeyer besang das mit seinem Lied «Kinder an die Macht»). Zwar können auch Kinder sehr brutal sein, doch dann stecken meist Prägungen Erwachsener und Gesellschaftsnormen dahinter.

Wie beurteilst du, dass die Rolle von Lucía von einem Mädchen (grossartig) gespielt wird, obwohl es um eine Transition von einem Jungen zu einem Mädchen geht?
Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass es für einen Jungen wesentlich schwieriger gewesen wäre, einen Jungen zu spielen, der sich als Mädchen fühlt. Ein Mädchen muss da viel weniger «spielen» (denn sie ist ja bereits ein Mädchen).

Hätte allenfalls ein Transkind die Rolle übernehmen können?
Die Idee scheint naheliegend. Doch wie könnte man von einem persönlich selbst zutiefst betroffenen Transkind, das selber noch in der eigenen Identitäts- und Persönlichkeitsfindung steckt, erwarten, sich in einer Filmrolle vom Publikum in die Tiefen seiner jungen Seele blicken zu lassen? Für mich wäre das höchst fragwürdig, wenn nicht gar unmoralisch und seelische Kindsmisshandlung. Vielen Dank, dass ich den Film anschauen durfte.

Vielen Dank für das Gespräch.


«20’000 Arten von Bienen (20.000 Especies de Abejas)»

Spanien 2023; 129 Min.
Regie: Estibaliz Urresola Solaguren
Mit Sofía Otero (Lucía), Patricia López Arnaiz (Mutter), Itziar Lazkano (Grossmutter), Ane Gabarain (Grosstante)
Verleih: www.cineworx.ch

Kinostart Deutschschweiz: 21. September 2023

Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.