Als wäre es für die Gegenwart geschrieben: «Roaring» ist ein rasendes Stück über Gender, Identität, Begehren und Widerstand – und 400 Jahre alt. Jetzt wird es erstmals auf Deutsch aufgeführt. Eine grosse Entdeckung. Premiere ist am 10. Dezember im Schlachthaus Theater Bern
Manche Stücke haben mehr als ein Leben. Und es gibt Figuren, die wiederkehren: Moll Cutpurse, bürgerlich Mary Frith alias The Roaring One, geboren 1584 in England, ist so eine Figur. Mary war eine Berühmtheit jener Zeit. Queer zu jeder Festschreibung, in heutigen Begriffen non-binär, eine Grösse auf den Showbühnen und in der Halbwelt Londons, wegen Crossdressing und «grober Unsittlichkeit» zu Gefängnis verurteilt, in Erinnerung geblieben als Mensch, der frei lebte.
1610 haben Thomas Dekker und Thomas Middleton diesem ungewöhnlichen Menschen ein dramatisches Denkmal gesetzt mit dem Stück «Roaring Girl». In England wird das Stück über Mary Frith noch heute gespielt, doch auf dem Kontinent wurde es bisher kaum zur Kenntnis genommen. Nun wurde es von Martin Bieri übersetzt und zu einem Solo umgearbeitet. Unter der Regie von Antje Schupp und mit Jules* Elting in allen Rollen wird es jetzt unter dem Titel «Roaring» zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch zur Aufführung gebracht.
«Ich bin mehr als alles das!
Entweder oder gibt es nicht.
Es gibt nur und.
Und und.»
So stürmt «Mad Moll», wie they auch genannt wurde, 400 Jahre nach their wildglamourösen ersten Auftritt wieder die Bühne und eignet sich eine neue Zeit an, die nach them gerufen hat.
Eine derbe City Comedy voller aktueller Fragen nach dem Verhältnis der Geschlechter, nach Liebe und Ökonomie, nach Sprache als Gift. Doch die Komödie ist bitter. Den Menschen fehlt etwas, sie können ihre Lust nicht stillen. Körper konsumieren sie wie Waren, von denen es immer mehr zu kaufen gibt. Keine*r weiss, wem er*sie vertraut und ob sich selbst zu trauen ist. Und mittendrin Mary Frith, in den Augen der Zeitgenoss*innen die Verkörperung der Amoral. Ein Nobody, dem es doch gelingt, ein Somebody zu sein, gefeiert und verfolgt zugleich.
Biografien wie jene von Menschen wie Frith, die innerhalb der Geschlechtervarianz keiner der beiden vermeintlich eindeutigen Positionen zugeschrieben werden können, sind in der Kulturgeschichte seit langem dokumentiert. Wenig von dem, was heute für Empörung sorgt, ist neu. Auch die Empörung nicht – und auch nicht die Unterdrückung, die sich daraus speist. Die hektisch geführten genderpolitischen Diskussionen unserer Tage sind erstaunlich geschichtsignorant. Dem steht die Geschichte von Mary Frith entgegen. Sie ist «Transcestry», ein Beispiel für das Erinnern an die queeren Ahnen. Nicht, um in der Vergangenheit zu schwelgen, sondern um die Gegenwart anders zu verstehen.
ROARING
DEKKER / MIDDLETON / BIERI
Schlachthaus Theater Bern
Sa, 10.12.2022 | So, 11.12.2022 | Do, 15.12.2022 | Fr, 16.12.2022 | Sa, 17.12.2022
Konzept: Martin Bieri Spiel Jules* Elting Regie Antje Schupp
Kostüme & Make-up: Valerie Reding
Bühne: Christoph Rufer
Musik: Christine Hasler
Text: Martin Bieri, Thomas Dekker, Thomas Middleton
Dramaturgie: Martin Bieri
Eine Produktion von Martin Bieri und Bernetta Theaterproduktionen
Koproduziert mit Schlachthaus Theater Bern und in Partnerschaft mit ROXY Birsfelden und Theater Winkelwiese Zürich
Tickets: schlachthaus.ch