«Ich staune manchmal, was ich alles geschafft habe in meinem Leben»

Zu Gast bei Hansuli Stoller

Manchmal fühlt sich der 68-Jährige ehemalige Lehrer, Pfarrer und Psychotherapeut etwas «alt und lebensmüde». Doch nachdem er mit Herman Kocher auf sein bewegtes Leben als schwuler Mann zurückblickte, motivierte es ihn zu Aussage: «Bleibe neugierig und offen für alles, was das Leben dir bereithält.»

Ein grossflächiges antikes Bild, das eine trauernde Frau zeigt. Eine mit einer Lampe verbundene Frauenstatue, erstanden in einer Blaukreuz-Brockenstube. Eine massige Stehpendeluhr – Hansuli Stoller nennt sie die «Sieben-Geisslein-Uhr», da eines von denen sich darin verstecken könnte –, gekauft vom ersten Pfarrlohn. Daneben modern-verspielte Kunst oder ein Kerzenständer. Und mir gegenüber sitzt ein Mann in schwarzem T-Shirt mit der Aufschrift «Latin Lover» und der Abbildung eines Spermiums in den Farben der italienischen Flagge, sowie einem Kreuz um den Hals. Alles Zeugnisse von der breiten Palette an Interessen, Denk- und Gefühlsräumen eines heute 68-Jährigen, eines aufmerksamen Gesprächspartners und sorgfältigen Gestalters seines Umfelds, hier in seiner Wohnung in Ostermundigen.

Hansuli hat aufgrund seines Schwulseins und frühen Coming-outs etliche Verletzungen davongetragen. Und doch bilanziert er: «Ich habe gerne gelebt», wobei die Vergangenheitsform der Aussage durchaus auch eine gewisse Müdigkeit erkennen lässt. So meint er, er sei zwar nach wie vor ein «gwundriger Mann», unterdessen aber «alt und manchmal lebensmüde». Nach wie vor ist er allerdings ein Geniesser. Das «Geniessen» kann sich dabei auf feinen Wein und ein gutes Essen beziehen, aber auch auf einen schönen Mann, ein tiefsinniges Gespräch, Stunden am Wasser, in denen er sich vergessen kann, oder im Wasser. Die Aare hat es ihm besonders angetan. «Panta rhei», alles fliesst, zitiert er den antiken Philosophen Heraklit.

«So einer will Lehrer werden!».

Aufgewachsen ist Hans-Ulrich, wie sein Name in der Geburtsurkunde offiziell heisst, in Münchenbuchsee. An den Ort, wo er seine Kindheit verbrachte, hat er nicht nur gute Erinnerungen. In der Schule fühlte er sich irgendwie fremd, anders als seine Mitschüler. «Die wird noch staunen», rebellierte es in ihm später gegen eine Lehrerin, die meinte: «So einer will Lehrer werden!». Sein Weg führte dann auch an das Seminar Hofwil, wo er die Ausbildung zum Lehrer absolvierte. Die ambivalenten Gefühle dem Ursprungsort gegenüber hängen auch damit zusammen, dass seine Eltern nicht damit umgehen konnten, einen schwulen Sohn zu haben. Der Vater, ein Milchmann, ging auf Distanz. Die Mutter, die für das Geschäftliche des Betriebs zuständig war, äusserte sich in einer Weise, die bei Hansuli tiefe Narben hinterliess. Zum Glück reagierte die Schwester gelassener. Heute weiss Hansuli, dass die Eltern in jener Zeit schlichtweg überfordert waren aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Den Tod der Eltern hat er nahe miterlebt, seine Mutter starb in seinen Armen, was bei ihm auch die Möglichkeit einer gewissen Versöhnung mit Vater und Mutter eröffnete.

Im Seminar Hofwil lebte Hansuli auf. Im Gegensatz zur Schule waren hier Theater oder Musik fest in den Lehrplan integriert. In jener Zeit machte er auch erste Erfahrungen mit Männern, wobei auch im Seminar das «Versteckspiel» weiterging, und er vortäuschen musste, eine Freundin zu haben. Nach Abschluss der Ausbildung war er ein paar Jahre als Lehrer im Emmental tätig, bevor er sich im Jahr 1975 entschloss, das Studium der Evangelischen Theologie in Angriff zu nehmen. Das Berufsziel «Pfarrer» stand von Anfang an fest. Aber auch in den Studienjahren begleitete ihn die Angst, «was wird, wenn es jemand merkt …». So nach einer Polizeikontrolle im Schwulenmilieu oder einem entsprechenden codierten Eintrag ins militärische Dienstbüchlein.

Todesdrohungen wegen seiner Homosexualität

Der Start in eine erste Pfarrstelle in Schwarzenburg verlief dann aber erfreulich. Er und sein Partner, den er unterdessen gefunden hatte und mit dem er 25 Jahre zusammenbleiben sollte, wurden wohlwollend aufgenommen. Dass der Partner bei Kirchenspielen, die Hansuli schrieb und inszenierte, oder bei Konfirmationslagern dabei war, galt als selbstverständlich. Schwieriger wurde es in einer zweiten Pfarrstelle im Spiegel bei Bern. Hier vermied es Hansuli, zu Pausenzeiten das Pfarrhaus zu verlassen, um sich nicht vom Schulhof her Rufe wie «Du schwule Sau» anhören zu müssen. Ein Jahr lang liess ihn ein militanter Rechtsaussen-Politiker aus der Gemeinde per Telefon terrorisieren, was bis zu Morddrohungen mit Angabe des Todesdatums führte. Anlässlich eines Spitalbesuchs gestand ihm später eine Patientin, der dies sichtlich peinlich war, es sei ihr Mann gewesen, der das alles zu verantworten habe …

Die Lebensgeschichte von Hansuli Stoller könnte mehrere Artikel füllen. Es muss hier abgekürzt werden: Aufgrund eines Burnouts verliess Hansuli das Pfarramt und absolvierte eine psychotherapeutische Ausbildung am «Institut für Körperzentrierte Psychotherapie» in Zürich. Teilzeitlich ist er auch heute noch als Therapeut tätig. Als Quereinsteiger fand er für zehn Jahre eine Anstellung als Berater am «Contact» in Bern, wo er junge Drogenabhängige betreute. Danach führte ihn sein Berufsleben an die offene Kirche Heiliggeist in Bern, wo er seine Interessen und Kompetenzen voll entfalten konnte. So zeichnete er verantwortlich für die Projekte «Kunst-trotz(t)-Demenz» und «Kunst-trotz(t)-Armut» oder für das niederschwellige Seelsorge-Angebot «Ganz Ohr».

Die Highlights in Hansulis Leben

Highlights in seinem Leben waren sicher das Verfassen und die Inszenierung von Kirchenspielen und Kirchencabarets. Dabei konnte er Menschen ansprechen, die den Weg in die Kirche ansonsten kaum fanden. Zwei Jahre spielte er zudem im Cabaret «Bärner Rohrspatze» im Katakömbli an der Kramgasse. Hier durfte er in ansonsten nicht ausgelebte Rollen schlüpfen, «Zeugs rauslassen», provokativ, frech und laut sein.

Heute ist Hansuli ruhiger geworden. Bei hab queer bern ist er Mitglied und dankbar für das Engagement der dort Aktiven, sieht sich selber aber nicht als «Politschwester». Ab und zu verbringt er Zeit im «Rosengärtli», einem kleinen Paradies in Schwarzenburg mit wunderbarer Aussicht und etlichen Kunstwerken im Garten, die Hansuli aus Eisen, Stein oder Glas geschaffen hat. Einzelne Etappen des Jakobswegs schenkten ihm spirituelle Erfahrungen. Dass das zunehmende Alter seinen Tribut fordert, ist ihm bewusst. Die Vorstellung, in Abhängigkeit von anderen zu geraten, ist ihm höchst unangenehm. Und trotzdem: Wirklich befassen damit, was ihm im Alter bevorsteht, mag er sich nicht. Lieber lässt er sich weiterhin leiten von seinem Motto «Bleibe neugierig, offen für alles, was das Leben dir bereithält.»

Hermann Kocher

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