Feiern wir die queere Sicht!

Queersicht – LGBTIA+ Filmfestival Bern

Queere Filme gibt es heute in Hülle und Fülle! Das Organisationsteam von Queersicht hat die Aufgabe übernommen, die besten auszusuchen. Sie präsentiert ihre Auswahl vom 3. bis 9. November in den Berner Kinos. Dazu gibt noch eine Party, ein Konzert, eine Loung-Bar, einen Brunch, zwei Vorträge, eine Masterclass, einen Workschop und eine Drag Storytime.

Sehen LGBTIA-Menschen die Welt anders? Was ist eigentlich eine queere Sicht und wie sieht die Welt aus, wenn man nicht der Norm entspricht? Fast 90 % der Weltbevölkerung sind heterosexuell. Ihr Blick auf die Welt wird uns aufs Auge gedrückt, ob wir wollen oder nicht. So einer massiven Mehrheit können sich auch queere Menschen nicht entziehen. Und doch halten sie entgegen und zeigen ihr Bild von der Welt, ob die anderen wollen oder nicht. Als Minderheit muss das laut geschehen, um nicht überhört zu werden, sie muss sich ihre eigenen Räume schaffen, um ihre Sicht zu zeigen. Das LGBTIA-Filmfestival macht das seit 26 Jahren und bietet queeren Filmschaffenden Raum, ihre Sicht auf die Welt zu zeigen. Diese Sicht ist oft gar nicht so anders. Liebesglück und Liebesleid, Freude und Trauer ist bei allen gleich. Doch wenn deine Liebe und dein Lebensstil nicht akzeptiert wird, wenn zu du deswegen diskriminiert, ausgegrenzt oder gar bestraft wirst, ändert das dein Blick. Das Leben in einer Subkultur hat zudem eine eigene Sprache, einen eigenen Humor, und ja, eine eigene Sicht auf die Welt geschaffen. Diese gilt es zu pflegen und zu feiern.

Als Queersicht 1996 zum ersten Mal stattfand, muss die Suche nach Filmen erheblich schwerer gewesen sein als heute, waren sie doch dünn gesät. Damals hätte noch kein grosses Filmstudio einen queeren Spielfilm ins Kino gebracht, weil sie davon ausgingen, dass Heteros sowas nicht interessiert. Das hat sich zum Glück geändert. Auch die 90 % können sich durchaus für queere Filme interessieren und LGBTIA-Filmschaffende stossen bei ihrer Suche nach der Finanzierung ihrer Filme nicht nur auf taube Ohren, hat die (Film-)Wirtschaft doch gemerkt, dass auch 10 % Geld einbringen können. So gibt es heute queere Filme in Hülle und Fülle! Die Schwierigkeit heute für ein Filmfestival ist es, die besten, spannendsten, schönsten, bewegendsten und relevantesten davon auszuwählen. Das 25-köpfigen Organisationsteam vom Verein Queersicht, das ehrenamtlich organisiert ist, hat diese Aufgabe übernommen und präsentiert vom 3. bis 9. November ihre Auswahl in den Berner Kinos: 32 lange und 23 kurze Filme aus den unterschiedlichsten Weltregionen und einem enorm breiten Themenfeld.

Die Frauenrockband Fanny 1973. (Photo by Michael Putland/Getty Images)

Der Eröffnungsfilm

bern.lgbt ist stolz darauf am Donnerstag, 3. November im Kino ABC den Eröffnungsfilm des Festivals präsentieren zu dürfen: «Fanny: The Right to Rock». In der Doku erzählt die Regisseurin Bobbi Jo Hart («Rebels on Pointe») die Geschichte der Frauenband Fanny. Aus der Garagenband zweier Schwestern entwickelte sich die legendäre Rockgruppe Fanny. Es war die erste reine Frauenband, die in den 70er-Jahren eine LP bei einem grossen Plattenlabel veröffentlichte. Trotz mehrerer Alben, Tourneen mit berühmten Bands und einer treuen Fangemeinde – David Bowie inklusive – wurde Fannys bahnbrechende Wirkung in der Musikgeschichte ignoriert – bis sie sich 50 Jahre später mit einem neuen Plattenvertrag wieder zusammenfanden. Schon früh kämpften sie gegen rassistische und sexistische Diskriminierungen, nun sind sie bereit, ihren Platz in den Hallen des Rock-’n’-Roll- Ruhmes einzunehmen.

Filmische Höhepunkte

In «Anima – die Kleider meines Vaters» (Deutschland 2022) erzählt Uli Decker in animierten und dokumentarischen Bildern wie sie nach dem Tod ihres Vaters seine geheime Kiste als Erbschaft erhält. Der Inhalt verändert ihren Blick auf den Vater, sich selbst, ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie aufwuchs. – Eine wahre Geschichte über Familiengeheimnisse und Geschlechterfragen.

Nasrin Pakkho porträtiert in ihrer Doku «I Just Want To Come Home» fünf in Schweden lebende trans Menschen zwischen 17 und 70 Jahren. Die verschiedenen Lebensgeschichten zeigen eindrücklich die grosse Vielfalt an Transidentitäten. Was sie verbindet, sind die Schwierigkeiten, die in einer Gesellschaft entstehen können, die oft Mühe hat, der Tatsache gerecht zu werden, dass «wir frei und gleichwertig geboren sind».

Die Klischees des Polizisten-Films gehörig auf Korn nimmt der isländische Film «Cop Secret» von Hannes Þór Halldórsson. Nach einer Reihe von Banküberfällen wird dem knallharten Polizist Bussi, der Regeln bricht und als Rebell Anerkennung erntet, ein neuer Partner zugewiesen: Hordur Bess. Dieser ist das totale Gegenteil von Bussi: kultiviert und ein ehemaliges Model. Gegensätze ziehen sich an!

«Anima – die Kleider meines Vaters»,«Cop Secret» und «I Just Want To Come Home»

Nicht zum ersten Mal interpretiert der französische Regisseur François Ozon Stoff von Rainer Werner Fassbinder neu. Nach der Filmversion «Gouttes d’eau sur pierres brûlantes» (2000) von Fassbinders Theaterstück «Tropfen auf heiße Steine» hat er sich nun dessen Film «Die bitteren Tränen der Petra von Kant» angenommen und ihn kurz in «Peter von Kant» umgetauft. Statt um eine Modeschöpferin geht es bei Ozon um einen Regisseur, der sich in den jungen Amir verliebt und ihm zum Star machen will. Der Plan geht auf, doch Amir hat bald grössere Ziele. Das verspricht Drama!

Immer spannend sind Filme aus Ländern, in denen die Akzeptanz von LGBT-Menschen weit entfernt ist und es trotzdem schaffen, diese Themen auf die Leinwand zu bringen. So einer ist «Joyland» aus Pakistan. Regisseur Saim Sadiq erzählt von der patriarchalisch geprägte Grossfamilie Rana, die sich nach der Geburt eines kleinen Jungen sehnt. Doch ihr jüngster Sohn schliesst sich heimlich einem erotischen Tanztheater an und verliebt sich in die glamouröse trans Tänzerin Biba. Ihre unmögliche Liebesgeschichte löst nach und nach den Wunsch der gesamten Familie nach einer sexuellen Rebellion aus.

Eine Triggerwarnung setzt Queersicht vor den Film «Ardente·x·s»: sexuell explizite Szenen! Nun, das sehen wir eher als Versprechen. Im CH-Film von Patrick Muroni geht es um eine Gruppe junger Frauen und queerer Menschen, die in Lausanne beginnen pornografische Filme zu drehen. Zwischen Studium und Jobs setzen sie alles daran, ethische und dissidente Filme zu produzieren. Sehr schnell werden Medien und Öffentlichkeit aufmerksam. Das Kollektiv wird in einen Kampf für eine andere Vision der Lust und Sexualität verwickelt.

Drei Kurzfilmblöcke und ein Pornoblock

Eine Spezialität von Queersicht sind die Kurzfilme, für die auch ein Publikumspreis verliehen wird. Denn du entscheidest wer die Rosa Brille für den besten (Prämie CHF 2000.–) und für den kontroversesten Kurzfilm (Prämie CHF 500.–) gewinnen soll. Die 23 Kurzfilme werden in drei Blöcken gezeigt. Doch heuer hat sich Queersicht noch etwas Besonderes einfallen lassen. Sie schreiben: «Wir lieben sie so heiss, unsere Kurzfilme, dass wir die berauschendsten für dich in einem Pornoblock zusammengeschnitten haben. Lass zu, dass sich deine Leidenschaft für queeres Filmschaffen auf Pornographie ausweitet, und lass dich überraschen – aufregen – mit unserer Carte Blanche. Es erwarten dich der füdliblutte Wahnsinn und neue Visionen queerer Lust und Sexualität!» Das dieser Pornoblock nicht für die Rosa Brille nominiert werden kann, liegt wohl daran, dass bei deren Anblick das Blut im Hirn in die unteren Körperregionen rutscht, und eine vernünftige Bewertung ausgeschlossen ist. 😉

Das Rahmenprogramm

Klar, die Filme sind die Hauptdarstelle*innen des Festivals. Doch ausserhalb der Kinosäle ist auch einiges los bei Queersicht. Wie gewohnt ist vom Freitag bis Sonntag die Bar & Lounge im Kulturpunkt im Progr offen. Am Sonntag wird in der Turnhalle ein queerliger Regenbogenbrunch serviert. Diesen wirst du vermutlich verpasse, wenn du die Nacht durchgetanzt hast an der Queersicht-Party am Samstag im Gaskessel. From Disco to Disco ist das Motto. «Wir haben ein Jubiläum nachzuholen. Deshalb feiern wir auf zwei Tanzflächen und garantieren mit einem fetten Line-up für ausreichende Endorphinausschüttung.»

Mykki Blanco (Photo: Irakli Gabelaia)

Zum Abschluss der queer glitzrigen Herbstveranstaltungen und des Filmfestivals präsentiert Queersicht zusammen mit bee-flat das Konzert von Mykki Blanco – mit Bandbegleitung! Die Amerikaner*in ist Wegbereiter*in für viele queere Musiker*innen in mancherlei Hinsicht. Letztes Jahr hat Mykki Blanco mit dem souligen Liebesalbum «Broken Hearts & Beauty Sleep» ein neues musikalisches Kapitel aufgeschlagen, das mit dem Nachfolger «Stay Close to Music» nun weiter verdichtet hat. Ein Ereignis, welches man nicht verpassen sollte. Am Mittwoch, 9. November in der Turnhalle. Der Vorverkauf auf petzi.ch wird empfohlen.

Visions of Queerness

25+1 Jahre nach dem ersten Queersicht Filmfestival wird mit zwei Vorträgen ein Blick auf die Ausdrucksformen queerer Geschichten und Bewegungen auf der Leinwand sowie rund ums Kino zurückgeworfen. Die Referierenden Skadi Loist und Simon Dickel führen uns durch die (Be-)Deutung queerer Realitäten. Sie eröffnen Perspektiven und zeigen, wie sich ein kulturelles Gedächtnis und die politischen Emanzipationen formten. Begleitet werden die Vorträge im Kino Lichtspiel von den Filmen «Neubau» und  «The Watermelon Woman».

Drag Storytime für Kinder

Sogar für Kinder von 3 bis 8 Jahren hat Queersicht etwas im Programm. Mit der Kinderpädagogin Brandy Butler und einer Drag performenden Person können die Kinder am Sonntagmorgen im Kulturpunkt Progr eine Version von sich selbst entwerfen – ganz so, wie sie wollen. Durch Geschichtenbücher, Musik und Bewegung werden – unter Anleitung unverblümt queerer Vorbilder – Themen wie Vielfalt, Selbstidentität usw. auf unbeschwerte Weise nähergebracht. Ist zwar gratis, aber anmelden sollte man sich schon, denn die Platzzahl ist beschränkt! Anmeldung mit Stichwort Drag Storytime an workshop@queersicht.ch

Masterclass und Workshop

Um Sex geht es bei einer Masterclass und einem Workshop. Jan Soldat gibt in seiner Masterclass Einblick in seine dokumentarische Methode: Sexualität als Türöffner zur persönlichen Geschichte. Er zeigt seine dramaturgischen Ansätze in Schnitt und Bildgestaltung, um tabuisierte Themen wie Sex mit Tieren, Sex im Alter und konsensuale, sexuelle Gewalt filmisch zugänglich zu machen. Jan Soldat gibt Auskunft über seine Arbeit im Spannungsfeld zwischen Dokumentarfilm und Pornografie. Menschen vom Sex Shop untamed.love bringen uns das Thema Konsens (Einverständnis) in einem sexuellen Kontext näher. Ein Workshop mit einem theoretischen Input und einem Praxisteil, in dem wir üben, Nein zu sagen und ein Nein zu akzeptieren, mit verschiedenen Rollenspielen, um Grenzen zu setzen und konsensuelles Geben und Empfangen auszuprobieren.


Queersicht LGBTIA+ Filmfestival
3. – 9. November 2022

Alle Info findest du auf www.queersicht.ch

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