Riccos verzauberte Welt

Jünglinge, Matrosen und Segelschiffe

Der Berner Künstler Ricco Erich Wassmer (1915-1972) schuf ein einzigartiges Werk zwischen Surrealismus, Naiver Malerei und Magischem Realismus. Dass Ricco homosexuell war, erschliesst sich aus der Wahl seiner Sujets: schlanke Jünglinge, Matrosen und die Sehnsucht nach der Ferne. Erst lange Zeit nach seinem Tod wurde sein Werk gewürdigt.

Ricco Wassmer vor seinem Bild «Le jacht amérticaine», 1948, Foto: Fredo Meyer-Henn

Erich Wassmer wuchs wohlbehütet als Sohn einer Industriellenfamilie im Schloss Bremgarten auf. Im Haus verkehrten Dichter, Maler und Komponisten. Das kunst-affine Milieu präge ihn und er wollte selbst Maler werden. Die Familie förderte sein künstlerisches Talent und ermöglichte ihm eine Ausbildung in München und Paris. 1939 markierte er den Beginn seiner Laufbahn als Künstler damit, dass er seine Bilder fortan mit Ricco signierte. Das Fernweh führte ihn nach Tahiti und als Schiffskoch umkreiste er auf einem Frachter zweimal die Welt. Nach seiner Reise lebte und arbeitete er teilweise auf Schloss Bombré bei Vichy, kam aber immer wieder nach Bern zurück, wo er in der berüchtigten Kunstszene der 50er-und 60er-Jahre verkehrte. Doch mit seiner rätselhaften Kunst, die auch seine unterdrückte Homosexualität thematisierte, feierte er keine Erfolge. Ausser den Verwandten und einigen Geschäftspartnern seiner Eltern gab es keine Käufer. Viele Werke verschenkte Ricco oder tauschte sie als Zahlung für Autoreparaturen, zahnärztliche Behandlungen oder Spenglerarbeiten. Er war zeitlebens auf die Unterstützung seiner reichen Familie angewiesen. Er wäre wohl vollends der Kunstgeschichte abhanden gekommen, wenn die Familie Wassmer nicht 1988 im Kunsthaus Aarau eine erste Retrospektive ermöglicht hätte. 2002 drehte Mike Wildbolz einen Dokumentarfilm über Ricco, und das Kunstmuseum Bern zeigte eine damit verbundene Kabinettausstellung. Im Jahr 2015 – zum 100. Geburtstag von Ricco – kuratierte Marc-Joachim Wasmer für das Kunstmuseum Bern schliesslich eine umfassende Retrospektive des Künstlers, und veröffentlichte einem dicken Ausstellungskatalog dazu. Seither hat sich die Bekanntheit Riccos erhöht, aber nicht nur wegen dem Film und der Ausstellung, sondern auch dank dem Internet. Neben dem Eintrag im SIKART, dem Lexikon zur Kunst in der Schweiz und einem dreisprachigen Beitrag im Wikipedia sind es das neu erwachte Interesse an «queerer» Kunst und hauptsächlich an den im Kunsthandel angebotenen Werken, die für die Popularisierung von Riccos Schaffen gesorgt haben, und zwar weltweit.

Riccos Stilmittel sind die Naive Malerei, die Neue Sachlichkeit und der Magische Realismus. Seine Sujets sind reich an Andeutungen. Sie deuten auf ein schwules Leben, das nicht (aus)gelebt werden konnten. Die 50er- und 60er-Jahren waren sehr homophobe Dekaden, es war es fast unmöglich sich offen schwul zu zeigen, denn Homosexualität galt als Verbrechen. Damals verkehrte Ricco im berüchtigten «Berner Kuchen», wo sich Künstler*innen und Bohemiens aus der ganzen Welt trafen. Darunter Meret Oppenheim und der legendäre Ausstellungsmacher der Kunsthalle Bern Harald Szeemann. Sie trafen sich im Café Commerce oder an den legendären Maskenbällen von Bob Steffen, dem Dekorateur und Jetsetter der als ‚Bob le Flaneur’ bekannt war. Für die Maskenbälle verkleidete Ricco sich als Mönch, Zirkusdirektor, Bandit oder Frau oder gar als zeigerlose Uhr. Seine Fantasie kannte keine Grenzen. Doch sein liebstes Kostüm war das des Matrosen. Ja, Ricco wollte selbst ein Matrose sein.

Der Mythos des schönen Matrosen war für ihn Inbegriff von Freiheit, von ungezähmtem Leben und Eros.

Marc-Joachim Wasmer, der Kurator der Ausstellung im Kunstmuseum Bern, erklärte Riccos Faszination für Matrosen so: «Matrosen und Südsee waren Riccos Projektionen einer inneren, unbändigen Sehnsucht nach einer Gegenwelt zu seiner grossbürgerlichen Herkunft und zu seinem angepassten Leben. Er war nie unabhängig. Wie viele andere Aussteiger erlag er dem Mythos des Ursprünglichen und Unverdorbenen. Schon in seiner Jugend fantasierte er von der einfachen Gemeinschaft auf dem Schiff und der rauen Männergesellschaft abseits der Zivilisation. Der Mythos des schönen Matrosen war für ihn Inbegriff von Freiheit, von ungezähmtem Leben und Eros. Als er dann tatsächlich auf einem Frachter arbeitete, waren der harte Alltag, die rauen Sitten und der Alkoholismus für Ricco eine herbe Enttäuschung. Das einmal als Vorstellung geformte Ideal des jungen Matrosen pflegte er aber zeitlebens in seinen Bildern.»

Bilder von Ricco: La roue, 1957, Öl auf Leinwand, Privatbesitz CH, ©R. A. Wassmer; Zwei Knabenakte, einer Zigarette rauchend, 1960, Tusche auf Papier, Kunstmuseum Bern ©R. A. Wassmer; Knabenkopf auf Gipshand ruhend, Fotografie, 1952. Privatbesitz FR, ©R. A. Wassmer, Zürich; Grapeshot, 1964, Öl auf Leinwand, Privatbesitz CH, ©R. A. Wassmer, Zürich

Dass Ricco Wassmer homosexuell war, erschliesst sich aus der Wahl seiner Sujets. Meistens malte er Jünglinge, oft in Matrosenuniform. Es war ein offenes Geheimnis unter Freunden und Verwandten. Darüber wurde in den 50er- und 60er-Jahren natürlich nicht gesprochen. Auch bei der Wiederentdeckung seiner Werke anlässlich der Ausstellung von 1988 und 2002, wurde seine Homosexualität nicht thematisiert. Marc-Joachim Wasmer erklärte das so: «Zwar galt Homosexualität in den lokalen Künstlerkreisen als chic und antibourgeois. Das war in den ‹heroischen Jahren› der Berner Kunst, als die Szene im Café du Commerce und in der Kunsthalle eine enorme Ausstrahlungskraft hatten und die Nonkonformisten jeglicher Färbung den Ton angaben. In der höheren Gesellschaft und im familiären Kontext allerdings wurde nie darüber geredet. Homosexualität war ein Tabu.» Ricco hatte eine einmalige Sitzung beim Zürcher Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler im Jahr 1954. Morgenthaler war der Erste seines Fachs überhaupt, der Homosexualität nicht als Krankheit, sondern als der Heterosexualität ebenbürtige Lebensform definierte und dies auch begründete. Wie von einem Modell Riccos überliefert wird, soll Morgenthaler dem Künstler den Rat gegeben haben, seine geheimen Nöte und existenziellen Fragen in seinen Bildern zu thematisieren, die Malerei als Lebensbehauptung zu nutzen. Dies ist eine mögliche Erklärung für Riccos veränderte Bildsprache ab der Mitte der 1950er-Jahre einerseits, und dessen Verwendung der Fotokamera als Arbeitsinstrument andererseits. Die Fotografien wurden ihm allerdings zum Verhängnis. Er machte Aufnahmen von Jungen, von bekleideten ebenso wie von nackten. Sie bildet den Schwerpunkt seines fotografischen Schaffens. Riccos Problem war, dass seine Modelle immer jünger wurden, und er damals gesellschaftlich gegebene Grenzen überschritt. 1963 kam die Polizei ins Schloss Bombré bei Vichy, wo Ricco lebte und arbeitete, und machten eine Hausdurchsuchung. Die gefundenen Aufnahmen beschertem ihm eine achtmonatigen Gefängnisstrafe wegen eines Sittlichkeitsdelikts. Die Verurteilung beim Strafprozess in Frankreich war ein Einschnitt in seinem Leben, nicht jedoch in seiner Kunst. Die letzten Jahre verbrachte Ricco, gesundheitlich schwer angeschlagen, im Waadtländer Dorf Ropraz. Als Ricco Wassmer 1972 im Alter von 56 Jahren nach langer Krankheit starb, war sein Werk als Künstler nur wenigen bekannt.

Ricco Wassmer, Rimbaud: Après le déluge, 1958, Öl auf Leinwand, Aargauer Kunsthaus Aarau

Riccos Werk ist exemplarisch für einen schwulen Mann, der seine Sexualität verheimlichen und verstecken musste und in der Kunst eine Ausdrucksform fand, in welcher er sein Begehren und seine Fantasien verschlüsselt ausleben konnte. «Riccos Kunst ist voller Rätsel, die es zu deuten gilt», bestätig Marc-Joachim Wasmer. «Bereits in seinem ersten Selbstporträt, das Ricco im Alter von 13 Jahren malte, ist diese Verschlüsselung fassbar. Er präsentiert sich da in der für den melancholischen Denker typischen Pose und in einer Art Innenschau. Es ist kein Spiegelbild eines lachenden oder neugierigen Teenagers, sondern die Erscheinung eines Jungen, der sich schon in diesem Alter als ein Anderer empfunden haben dürfte. Ricco war ein Grenzgänger im Leben wie in der Kunst. Was Ricco ebenfalls als beachtenswerten Künstler würdigen lässt, ist dessen eigenständiger Versuch, für die zeitlebens als Belastung empfundene sexuelle Neigung in Bildern Aussagen darzustellen, die auch von ähnlich Denkenden und solchen, die der Homosexualität gegenüber offen sind, verstanden werden können.»


Der Katalog zur Ausstellen im Jahr 2015 im Kunstmuseum Bern, anlässlich des 100. Geburtstags von Ricco Wassmer, ist beim Verlag Scheidegger und Spiess erhältlich.

 

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