«Petite maman» – eine magische Zeitreise

Der neue Film von Céline Sciamma

Der Film der queeren Regisseurin Céline Sciamma erzählt poetisch von Tochter und Mutter, die sich ausserhalb der Zeit begegnen. Eine intime Reise, bei der es weder um Zukunft noch um Vergangenheit geht, sondern um die gemeinsame Zeit. «Petite maman» läuft ab 4. November in den Kinos.

In allen Filmen der queeren Regisseurin Céline Sciamma aus Frankreich stehen Frauen im Mittelpunkt. Bereits in ihrem Debüt «Water Lilies» (2007) geht es um die sexuellen Wirrungen einer Pubertierenden. In «Tomboy» von 2011 porträtiert Sciamma eine Zehnjährige, die sich als Junge ausgibt. Mit «Portrait de la jeune fille en feu», einer lesbischen Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert zwischen einer Malerin und ihrem Model, konnte sie ihren bisher grössten Erfolg verbuchen. Céline Sciamma schrieb auch das Drehbuch zum erfolgreichen Schweizer Animationsfilm «Ma vie de Courgette». Wie dieser ist auch ihr neustes Werk «Petite maman» eine poetische Auseinandersetzung mit der Kindheit, und zudem eine fabelhafte Ode an das einzigartige Band zwischen Müttern und Töchtern.

«Es ist unerlässlich die Geschichten der Kinder zu erzählen»

«Mir schien, dass der Film wichtig ist, weil er von Kindern handelt», begründet Céline Sciamma ihre Motivation den Spielfilm «Petite maman» zu realisieren. «Kinder haben in den letzten Jahren unterschiedliche Krisen und kollektive Nöte erleben müssen: militarisierter Schulalltag seit den Anschlägen, die verschiedenen Wellen von #MeToo und die Covid-19-Krise, von der sie direkt betroffen sind. Auch wenn sich die politischen Entscheidungsträger*innen nie offiziell an sie wandten, haben die Kinder alles erlebt und gehört. Ich halte es deshalb für unerlässlich, sie einzubeziehen, ihre Geschichten zu erzählen, sie wahrzunehmen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.»

In «Petite maman» geht es um die achtjährige Nelly. Sie fährt mit ihren Eltern zum Haus der geliebten Grossmutter, das es zu räumen gilt. Neugierig erkundet Nelly das Haus und die Umgebung und entdeckt dabei Spuren und Geschichten aus einer Zeit, in der ihre Mutter selbst noch ein Kind war. Als sie beim Spielen im Wald ein gleichaltriges Mädchen kennenlernt, spüren beide sofort eine grosse Verbundenheit. Nellys neue Freundin trägt den Namen Marion – der Name ihrer Mutter.

Eine Begegnung ausserhalb der Zeit

Nelly begegnet ihrer Mutter, als diese selbst ein Kind war. «Petite maman» ist ein radikal neuer Entwurf einer Zeitreise-Geschichte. Eine intime Reise, bei der es weder um Zukunft noch um Vergangenheit geht, sondern eben um die gemeinsame Zeit. «Die Entscheidung, einen solch magischen Kinofilm zu machen, bedeutet, sich in präziser imaginärer Kartographie zu üben» erzählt Céline Sciamma über die Herausforderungen, diese Zeitreise auf die Leinwand zu bringen. Sie fand, dass ein Studio die ideale Spielwiese bildet um eine solchen Film zu gestalten, der wie aus der Zeit gefallen scheint. Die Entscheidung im Studio zu drehen hat den Bau eines massgeschneiderten Hauses ermöglicht. «Ich nutzte die Gelegenheit, um so viel wie möglich damit zu arbeiten. Ich bezog alle Details mit ein – die Grösse der Fenster, die Teppiche und die Tapeten, mit denen wir die Farbpalette des Films erschaffen haben, bis hin zur Gestaltung der Lichtschalter. Der Film spielt nicht in einer bestimmten Zeit. Ich möchte, dass sich ein Kind des Jahres 2021, aber auch ein Kind der 50er-, 70er- und 80er-Jahre in die Räume des Films hineinversetzen kann.» Die Aussenaufnahmen wurden in einem Wald nahe der Stadt Cergy gedreht, wo die Regisseurin aufgewachsen ist. Auch dort haben sie viel nachgeholfen um die Umgebung herbstlich bunt zu schmücken. «Ich liebte es zu sehen, wie Erwachsene in den Wäldern meiner Kindheit eine Hütte bauten und Herbstblätter auf den Boden warfen.» Um dieses Zeitlose zu zeigen, war auch die Arbeit an den Kostümen entscheidend. «Ich untersuchte Klassenfotos von den 1950er-Jahren bis heute, um den universellen Charakter der Kinderkleidung von einer Generation zur nächsten bis hin zur Realität der aktuellen Kindermode zu erkennen. Dieses Nachdenken über die Kostüme hat uns dazu ermutigt, auf jede Form von Alterungserscheinungen oder geisterhaften Unterschieden zwischen dem Haus der Gegenwart und dem der Vergangenheit zu verzichten. Selbst innerhalb des Films ist kein Gefühl für die Zeit vorhanden.»

Das zuschauende Kind

«Petite maman» soll ein Erlebnis für Erwachsene und Kinder gleichermassen sein. Es soll die Menschen zusammenbringen, indem es jungen und alten Zuschauer*innen die gleichen Möglichkeiten der Beteiligung und Erfahrung bietet. Doch bei allen Entscheidungen zu Gestaltungs- und Arbeitsschritten stand das Kind als Zuschauerin oder Beobachterin im Zentrum. «Wenn ich bei einer Regieanweisung unschlüssig war, habe ich mich gefragt: Was würde der japanische Anime-Regisseur Hayao Miyazaki («Chihiros Reise ins Zauberland») tun? Wir haben uns immer für die Perspektive der kindlichen Zuschauerin entschieden, auch im Schneideraum. Das bedeutet nicht, dass das immer die einfachste Wahl ist, im Gegenteil, es ist eher die Wahl der radikalsten poetischen Kürzung. Kinder haben nicht unser ganzes kulturelles Gepäck und den damit verbundenen Druck, daher sind sie sehr offen für neue Ideen und Geschichten.» Der Film versucht, einen neuen Kreislauf zwischen Generationen und Körpern zu erfinden. Ein Kinoerlebnis, das eine kollektive, körperliche Erfahrung ermöglichen soll. Céline Sciamma hofft, «dass wir uns beim Verlassen des Kinos gegenseitig mit anderen Augen sehen werden.»

Damit wir die Sicht der beiden Mädchen teilen können, brauchte es die richtigen Darstellerinnen. «Beim Schreiben des Films habe ich mich gefragt: Wenn ich meine Mutter als Kind treffe, ist sie dann meine Mutter? Ist sie meine Schwester? Ist sie meine Freundin? Ist sie all das gleichzeitig? Diese Fragen erzeugten eine gewisse Verwirrung, die dem Film zugrunde liegt. Da kam mir die Idee, dass die Mutter und die Tochter von Schwestern gespielt werden könnten.» Sie fanden Joséphine und Gabrielle Sanz. «Wie immer bei meiner Arbeit mit Kindern wurde dann alles am Set gemacht. Keine Proben, sondern eine tägliche Auseinandersetzung mit den Fragen der Inszenierung. Das ist eine Geste des radikalen Vertrauens in die Seriosität und das Talent der Kinder. Das erfordert viel Vorbereitung im Vorfeld – zumal die Drehzeiten für Kinder zu Recht kurz sind – aber auch ein ausserordentliches Mass an Konzentration während des Drehs. Aber ich wurde nie enttäuscht, ganz im Gegenteil.»

Begeisterte Filmkritiken

Diese magische Zeitreise in Kindheitstage, die Begegnung von Tochter und Mutter ausserhalb einer bestimmten Zeit in einer imaginären Welt kommt bei der Kritik gut an. Nachdem «Petite Maman» an der Berlinale im März 2021 gezeigt wurde, schrieb Elisabeth Franck-Dumas (Libération), Sciammas Regiearbeit sei ein «wunderschöner Film über die Konstruktion der Mutterschaft, der sowohl aus Überlieferung als auch aus Improvisation» bestehe. Für Andreas Kilb von der Frankfurter Allgemeine Zeitung ist der Film ein «Glücksmoment». Der Film lässt, «wie jedes gelungene Kunstwerk» die Grenzen des Genres Jugendfilm hinter sich. «Eine Meditation in Bildern gemacht, die immer ganz nah am Realen sind und zugleich tief im Phantastischen wurzeln, ein Treffen zwischen den Generationen, wie es nur im Kino, dieser Zauberkiste der Zeitlosigkeit, visuell glaubhaft» sei. Kathleen Hildebrand (Süddeutsche Zeitung) fasste Trost als Thema des Films auf. Sciamma gehe mit «Petite Maman» weit über die «Fantasie eines Kinderspiels» hinaus. Die Mädchen würden sich mit «einer Ernsthaftigkeit und Poesie über die Dinge des Lebens» unterhalten, «die den emotionalen Horizont vieler Erwachsener übersteigen dürfte». (Wikipedia)



«Petite Maman»

Ein Film von Céline Sciamma

Frankreich, 2021 DCP, Farbe, 72 Min.
Sprache: Französisch
Buch und Regie: Céline Sciamma
Darsteller*innen: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne und Margot Abascal

Kinostart Deutschschweiz: 4. November 2021

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