SCHWULENKARTEI

Die Berner Polizei und die Schwulen

Bis 1990 wurden Schwule von der Kantonspolizei in einer Kartei erfasst. Auf Initiative der Homosexuellen Arbeitsgruppen Bern (HAB) wurde es abgeschafft. Nachdem es 30 Jahre unter Verschluss war, konnten Max Krieg und Hermann Kocher von den HAB die Karteikarten sichten. Das haben sie gefunden.

Im Zug der Aufarbeitung der jahrzehntelanger Fichierung von Schwulen in Zürich gelangten 1979 auch die Homosexuellen Arbeitsgruppen Bern (HAB) an die Stadt Bern, und bei ihre Stadtpolizei die Abschaffung und Vernichtung des Homo-Registers zu verlangen. In diesen Registern wurden nicht nur aus irgendeinem Grund straffällig gewordene schwule Männer erfasst, sondern auch all jene, die im Zug der Ermittlungen als Schwule erkannt oder vermutet wurden. Registriert wurden auch die Namen aller Männer, die entweder als Stricher aufgegriffen oder von der Stadtpolizei an öffentlichen Schwulen-Treffpunkten kontrolliert wurden. Anfänglich stritt die Stadtpolizei ab, ein solches Register zu haben. Doch mit bekannt gewordenen Register-Eintragungen belegten die HAB das Gegenteil. Die Stadtpolizei sagte schliesslich zu, dieses Register abzuschaffen und zu vernichten.

Erst 1990 kam ans Licht, dass die Stadtpolizei zwar auf ihr Register verzichtet hatte, jedoch das von der Kantonspolizei 1977 begonnene Register weiter geführt wurde. Während des Wahlkampfs für den Regierungsrat 1990 wurde der amtierende, für die Polizei zuständige Regierungsrat mit dem Bestehen dieser Kartei konfrontiert. Zuerst verneinte er, Kenntnis davon zu haben. Erst nach einer Intervention der HAB musste der Polizeikommandant schliesslich die Existenz dieses Registers zugeben. Die HAB verlangten eine öffentliche Entschuldigung und dass die erfassten Männer benachrichtigt werden. Da das Register auch aufgrund eines Bundesgerichtsentscheides und der Intervention des Datenschutzbeauftragten zur «heissen Kartoffel» geworden war, stellte der Polizeikommandant in Aussicht, das Register Ende 1990 zu vernichten. Das wiederum gefiel den HAB nicht. Sie verlangten diesmal, dass das Register zwecks historischer Aufarbeitung dem Staatsarchiv des Kantons Bern übergeben werde. Der Staatsarchivar und der Polizeikommandant einigten sich schliesslich darauf, dass nur die anonymisierten Erfassungen unter dem Buchstaben «B» eingeliefert würden (was üblichen archivalischen Grundsätzen entspricht), und legten gleichzeitig eine Schutzfrist von 30 Jahren fest.

Peter Thommen (arcados-Buchladen Basel) hat hab queer bern auf den Ablauf der Frist aufmerksam gemacht. In der Folge sichteten Hermann Kocher und Max Krieg Ende März 2021 die (bescheidene) Archivalie. Kurz gesagt, besteht der Inhalt aus drei Mappen: (A) zu Schwulen (1977 bis 1990, 39 Erfassungen), (B) über männliche und weibliche Prostitution (1970 bis 1990, 17 Erfassungen von Strichern und 13 von Dirnen) und (C) Dirnen (1977 bis 1990, 45 Erfassungen), einem Zeitungsartikel der Berner Zeitung vom 26. April 1990 zur Thematik der Schwulenregister, dem Schriftwechsel zwischen Staatsarchivar und Polizeikommandant sowie den Karteikarten. Wenn man den Bestand des archivierten Buchstabens «B» hochrechnet, kann mit Fug und Recht vermutet werden, dass diese Registrierung mehr als tausend Personen betraf.

Die Anonymisierung der Karteikarten in den Mappen A und C ist sehr weitgehend. Denn nicht nur die Namen, sondern auch alle Angaben zum Wohnort der Person(en), die Geburtsdaten der Person(en) und der Ort der Feststellung wurden unkenntlich gemacht. Teilweise sind in den Mappen A und C noch der Heimatort (!) und der Sprachgebrauch der Erfassten, ab und zu der Zivilstand sowie das Datum des Vorkommnisses oder in vielen Fällen der Anzeige ersichtlich.
Was also kann aus der Archivalie geschlossen werden? An dieser Stelle ist anzumerken, dass das Sexualstrafrecht (Herabsetzung des Schutzalters für gleichgeschlechtliche Handlungen von 20 auf 16 Jahre, Straffreiheit für männliche Prostitution) erst 1992 revidiert wurde. Die Kantonspolizei führte seit 1970 ein eigenes Register über männliche und weibliche Prostituierte auf farbig getrennten Karten (rot für Frauen, grün für Männer), wohl für den Kantonsbereich (ohne Stadt Bern). Sie enthielten keinen Vordruck der verlangten Angaben zu Personalien oder Umständen der Registrierung. Allerdings beschränkte sich die Kartei auch hier nicht einzig auf Strichjungen.

«Da in den meisten Fällen keine strafbaren Handlungen vorliegen, müssen die Erhebungen diskret erfolgen.»

Obwohl die Stadt Bern erst 1979 auf eine eigene Schwulenkartei verzichtete, regelte die Kantonspolizei bereits 1977 in einem Zirkular die «Einführung der Dirnen- und Homo- bzw. Strichjungenmeldekarten». Dabei wurde das (Polizei-)Korps wie folgt angewiesen: «Da in den meisten Fällen keine strafbaren Handlungen vorliegen, müssen die Erhebungen diskret erfolgen.» Zuständig war das Dezernat «Sittlichkeit».

Die einheitliche «Strichjunge und Homo Meldekarte» von 1977 enthielt bereits eine Aufzählung von gewünschten Angaben zu nicht amtlichen persönlichen Angaben, wie «Lebt zusammen mit», «Verkehrt in (Lokale)», «Fahrzeug» und eine Reihe von Ankreuzkästchen zu «Homosexuell», «Strichjunge», «Gewerbsmässig», «Femininer Typ», alles fein säuberlich in Deutsch und Französisch. Noch weiter ging es bei den Angaben zum Signalement. Neben «Grösse», «Statur», «Haarfarbe», «Sprache» und «Besondere Merkmale» sollten dann auch die verschiedenen sexuellen Neigungen (von «Bisexuell» bis «Sodomist» – was wohl den ab 1970 verwendete Begriff «Afterverkehr» ersetzen sollte – über «Fetischist», «Sado-Maso» und «Transvestit» erfasst werden. Dazu kamen dann mögliche Straftaten oder Qualifizierungen, von «Verkehr in Betäubungsmittel-Kreisen», «Räuber», «Dieb», «Akt- und Pornofotos» und «Tierhalter» (!).

Einige Einträge zeigen, dass die damaligen ermittelnden Polizisten schockiert waren, aber aus heutiger Perspektive wirken sie zum Teil eher erheiternd. Etwa wenn der Aufgegriffene in einem Berner Vorort «beim Schmusen im Gasthof Bären» oder «in naheliegendem Gebüsch bei sexuellen Handlungen» überrascht wurde. Ab und zu wurde die Kleine Schanze in Bern als «Tatort» festgehalten. Ein anderer Mann hat offenbar seine Tätigkeit als «Hobby-Funker» dazu gebraucht bzw. missbraucht, um in Kontakt mit Jugendlichen zu treten. Die Rede ist weiter von einem «krankhaften Damenwäschedieb» oder von einem «Transvestiten», der spazierend in einem Wald im Oberland in Frauenkleidern (u.a. mit schwarzen Stiefeln, einem roten Jupe, graumelierter Perücke, Brille mit silbernem Gestell und grünem Damenregenschirm) aufgegriffen wurde. In einzelnen Fällen wurde eine Verbindung zu «Betäubungsmittelkreisen» vermerkt oder notiert, der Kontrollierte sei «geistig zurückgeblieben» oder leide unter psychischen Problemen.

Schon damals fielen (wohl erste) «Tatoos» und ein «Ohrenschmuck» auf. Und ab und zu wurden Männer aus «Nordafrika» erwähnt, die als Strichjungen tätig oder in kriminelle Taten verwickelt oder welche die Vorliebe der erfassten Person waren. Speziell ist auch der Fall, in dem sich ein Mann als Polizist ausgab, um junge Männer anzulocken und sie zu betasten.

Viele Karteikarten ab 1970 (teils bis 1990 nachgeführt) wurden aufgrund von angezeigten Straftaten über die Täter – zum Teil Strichjungen, zum Teil andere Männer, die Homosexuelle überfielen, erstellt. Auffallend ist, dass auch ab 1977 (neue Meldekarten) zahlreiche Erfassungen aufgrund von Anzeigen von schwulen Opfern von Gewalt, Raub oder Diebstahl erfolgten. Zwei der Meldekarten könnten aufgrund einer Meldung von Nachbarn/Bekannten/Gemeindebehörden erstellt worden sein (nur Vermerke «Zuzug in Gemeinde», «nicht persönlich bekannt» oder überhaupt kein Vermerk, wie z.B. bei einem «Eidg. Beamten»).

«Warum musste erfasst werden, was keine Straftat ist?»

Rückschlüsse aus dem vorliegenden Material zu ziehen, ist ziemlich schwierig, jedenfalls was das Vorgehen der Polizei betrifft. Ob für eine umfassendere wissenschaftliche Aufarbeitung genug Material vorliegt, bleibt offen. Sicher ist die Erkenntnis, dass diese Jahre eine «andere Zeit» waren. Die Erfassung von Homosexuellen war nur auf schwule Männer (ohne lesbische Frauen) ausgerichtet. Der in Zürich vorgeschobene Grund, Schwule (nur) zu ihrem Schutz zu erfassen, bleibt nach wie vor ein Vorwand, auch im Kanton Bern. Warum musste erfasst werden, was keine Straftat ist – da weder gleichgeschlechtliche Handlungen (mit Volljährigen ab 20 Jahren) noch die weibliche Prostitution ab 1942 gemäss Strafgesetzbuch strafbar waren? Ob die staatlichen Autoritäten, die Polizei, dennoch davon träumten, alles «Widernatürliche und Unbotmässige» zu erfassen und es dann doch noch auszumerzen? Fest steht, dass mit diesen Erfassungen, obwohl angeblich nur Wenige in die Kartei Einblick hatten, Vielen Schaden zugefügt wurde.

Wir müssen uns aber fragen, ob sich die (versteckten) Mentalitäten in den Verwaltungen und den Polizeien seither geändert haben. Ist unsere Angst unbegründet, dass wir wider Willen in einer parallelen Kartei zu landen, wenn wir eine Anzeige wegen LGBTIQ-Hassverbrechen einreichen? Wird tatsächlich nur die Täterschaft erfasst?

Max Krieg in Zusammenarbeit mit Hermann Kocher

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