Wahlen in der Stadt Bern

«hab queer bern» hat einige queere Kandidat*innen befragt.

Die Liste der Kandierenden aus der queeren Community ist erstaunlich lang. Den verschickten Fragebogen haben bisherige Stadträt*innen beantwortet, aber auch solche, die erstmals gewählt werden möchten. Der Verein «hab queer bern» hat sie ausgewertet und nimmt Stellung dazu.

 

Daniel Frey von «hab queer bern» über die Wahlen

Ende November wählen die Stimmberechtigten der Stadt Bern 80 Stadtratsmitglieder, fünf Gemeinderatsmitglieder und die Stadtpräsidentin oder den Stadtpräsidenten. Obschon unser Hauptquartier sich nicht mehr direkt in der Stadt Bern befindet und auch viele unserer Mitglieder ausserhalb der Stadt Bern leben, werfen wir einen genaueren Blick auf diese spannenden Wahlen.

Es fällt auf: Die Liste der Kandierenden aus der queeren Community ist erstaunlich lang, einige unterstützen unseren Verein sogar mit einer Mitgliedschaft – dabei haben bei Redaktionsschluss noch nicht mal alle Parteien ihre Wahllisten veröffentlicht. Und die Liste ist dermassen lang, dass wir nicht alle Kandierenden anschreiben konnten …

Den verschickten Fragebogen haben bisherige Stadträt*innen beantwortet, aber auch solche, die erstmals gewählt werden möchten. Als Queer*Aktivist ist es mir persönlich wichtig, dass in unseren Parlamenten der LGBTIQ-Anteil möglichst hoch ist. Und diesbezüglich herrschte bei den Befragten von links bis rechts Einigkeit. «Indem sich öffentliche Personen (nicht nur in der Politik bzw. im Stadtrat), möglichst selbstverständlich zu ihrem Queersein bekennen, stützen sie die LGBTIQ-Community», schreibt beispielsweise Marcel Wüthrich, Stadtrat und Mitglied von «hab queer bern». Einigkeit herrscht auch über die Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg. Da allerdings die Angehörigkeit zur LGBTIQ-Community allein kein politisches Programm darstelle, sei «dieser Kontakt aber nicht wichtiger als der generelle überparteiliche Kontakt, um Mehrheiten für politische Anliegen zu finden», ist sich Marcel Wüthrich sicher. «Dass ich schwul bin, ist nur eine Eigenschaft meiner menschlichen Existenz – und nicht nur als schwuler Mann fühle ich mich diskriminiert!».

Seit der Gründung unseres Vereins bieten wir die Möglichkeit, sich an sicheren Orten zu treffen und sich austauschen zu können. Und wir stellen immer wieder fest: Noch immer ist für viele LGBTIQ ein «Safe Space» ausserordentlich wichtig.

Für Siméon Seiler gibt es allerdings keine «Safe Spaces», allenfalls «SafER Spaces», also Räume, die etwas sicherER sind. Deshalb sieht er eine Förderung dieser Räume durchaus als sinnvoll an, auch in finanzieller Weise.

Nik Eugster ist seit seiner Jugend Mitglied von «hab queer bern» und war Mitgründer der Jugendgruppe ComingInn. «Ich kenne deshalb die Relevanz dieser ‹Safe Spaces›und bin stark dafür, dass sie auch finanziell gefördert werden. Sie sind eine wichtige Ergänzungen zu den kommerziellen Angeboten, beispielsweise gerade im Bereich der Beratung.»

Klar wird aus den Antworten der Befragten queeren Politiker*innen: Wir brauchen solide politische Mehrheiten – über alle Parteigrenzen hinweg.


Unser Kandierenden-Karussell

Das sind die Kandidat*inne für den Berner Stadtrat in alphatischer Reihenfolge, die wir befragt haben:

  • Ursina Anderegg (bisher, GB)
  • Timur Akcasayar (bisher, SP)
  • Lea Bill (bisher, GB)
  • Nik Eugster (neu, FDP)
  • Joel Hirschi (neu, JFDP)
  • Claude Meier (neu, FDP)
  • Dominic Nellen (neu, SP)
  • Tabea Rai (bisher, AL)
  • Siméon Seiler (neu, GB)
  • Marcel Wüthrich (bisher, GFL)

Unsere Fragen und ihre Antworten

Warum ist die Sichtbarkeit von queeren Politiker*innen im Berner Stadtrat wichtig?

Für Tabea Rai ist es vor allem wichtig, «dass sich die Vielfalt unserer Gesellschaft auch in den jeweiligen Parlamenten widerspiegelt». Und Lea Bill ergänzt: «Mein Ideal ist es, dass der Stadtrat die Stadtberner Bevölkerung widerspiegelt, mit all ihrer Vielfalt, um so allen ein Gesicht und damit auch ein Gewicht im politischen Prozess zu geben».

Für Claude Meier ist dabei nicht nur die Sichtbarkeit von queeren Menschen im Stadtrat wichtig, «sondern in der ganzen Gesellschaft und in Führungsfunktionen von Politik, Wirtschaft, Staat». Dies ermögliche jüngeren Menschen vor dem Coming-out auch eine Identifikationsmöglichkeit oder zeige generell der Gesellschaft: «Wir sind da und nehmen unsere Verantwortung wie jede*r Andere wahr». Auch für Joel Hirschi ist die Vorbildfunktion von Politiker*innen wichtig: «Gerade um Minderheiten in der Gesellschaft zu stärken und deren Akzeptanz in der heteronormativen Gesellschaft zu fördern ist es wichtig, dass die LGBTIQ- Community auch in der Politik sichtbar ist». Dabei sei es auch wichtig, mit der Präsenz von queeren Politiker*innen auch andere Queers zu motivieren – sei dies nun parteipolitisch oder in einem Verein.

«Sichtbarkeit ist der erste Schritt zur wichtigen Vernetzung», ist sich Dominic Nellen sicher. Verknüpft mit der Sichtbarkeit sei auch der Anspruch, dass «wir» nicht ignoriert werden können: «Ich persönlich stehe als schwuler Mann hin und sage: ich möchte eine tolerante und soziale Stadt Bern».

Nik Eugster betont, dass es nicht nur national, sondern auch auf städtischer Ebene noch viel zu tun gebe. Gerade deshalb sei es wichtig, dass queere Politiker*innen sichtbar die Anliegen der Community vertreten: «Es muss auch weiterhin Freiräume für unsere Community geben – wie sie beispielsweise ‹hab queer bern›anbietet».

Sichtbare queere Politiker*innen zeigen der LGBTIQ-Community, dass sie in der Politik vertreten ist.

Timur Akcasayar

Ursina Anderegg (bisher, GB), Timur Akcasayar (bisher, SP), Lea Bill (bisher, GB), Nik Eugster (neu, FDP), Joel Hirschi (neu, JFDP)

 

Wie wichtig ist der Kontakt zu queeren Politiker*innen über die Parteigrenzen hinweg?

Alle Befragten sind sich einig: Es sollte mehr um Sachpolitik gehen als um Parteipolitik! «Es ist grundsätzlich sinnvoll über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten», ist sich Tabea Rai sicher. Für Nik Eugster kann zudem der Anteil von queeren Politiker*innen nie hoch genug sein, wenn mensch beachte, «wie rückständig wir in gewissen uns betreffenden Themenbereichen sind». Der Austausch über Parteigrenzen hinweg sei essenziell, meint auch Joel Hirschi, und nicht nur bei LGBTIQ-Themen: «Eine Demokratie lebt von ihren unterschiedlichen Meinungen».

Für Ursina Anderegg ist der Kontakt unter queeren Politiker*innen vor allem dann wichtig, wenn es um queere politische Anliegen geht: «Es macht viel aus, wenn in fast allen Fraktionen queere Stadträt*innen sind, die sich dann für ein Anliegen einsetzen können». Ansonsten sei es im Parlament wie in der ganzen Community: «Queer sein heisst nicht, dass wir uns alle persönlich nett finden oder gleicher Meinung sind». Auch für Lea Bill ist klar: «Für eine enge Zusammenarbeit braucht es aus meiner Sicht gemeinsame Werte, da reicht queer sein allein nicht». Und Siméon Seiler bringt es auf den Punkt: «Zur LGBTQIA-Community zu gehören ist noch kein Garant dafür, dass wir am gleichen Strick ziehen können».

Nachhaltige gesellschaftliche Fortschritte brauchen solide politische Mehrheiten.

Dominic Nellen

Die Stadt Zürich hat soeben mit dem Bau von Alterswohnungen für queere Personen begonnen. Ein Modell auch für die Stadt Bern?

Die Antwort auf die Frage, ob sie ein solches Projekt in der Stadt Bern unterstützen würde, ist für Tabea Rai klar: «Ja, sofort!». Auch Dominic Nellen findet Alterswohnungen für queere Personen förderungswürdig: «Es kommen nun mehr Personen ins höhere Alter, die ein Leben lang offen queer gelebt haben. Ihren besonderen Bedürfnissen muss Rechnung getragen werden». Und Siméon Seilermeint, dass es «unschön» wäre, im Alter das Coming-out rückgängig machen zu müssen, wenn Heimpersonal oder Mitbewohner*innen nicht sensibilisiert sind. «Sofern eine Sensibilisierung in den üblichen Institutionen nicht machbar ist, sind separate Wohnungen eine Option.»

Claude Meier findet im Zusammenhang mit dem Zürcher Projekt gerade das Engagement von privaten Organisationen und Vereinen zum Bau und Betrieb von Alterswohnungen für queere Personen sehr begrüssenswert und ein Vorbild für weitere Städte. Aus seiner Sicht ist auch die Vielfalt und Diversity in den Gesundheitsberufen ein wichtiges Thema: «Wer darauf sensibilisiert wird, kann auch lernen, besser damit umzugehen».

Joel Hirschi ist überzeugt, dass die Bedürfnisse von Queers anders sind als jene der cis Heteros. Ihm ist deshalb wichtig, dass sich auch konventionelle Altersheime an die neuen Gegebenheiten anpassen: «Generell gehören die Bedürfnisse queerer Senior*innen in die Pflegeausbildung integriert».

Für Nik Eugster ist die Zusammenarbeit der Stadt Zürich mit dem Verein queerAltern vorbildlich und ein ähnliches Projekt wäre für Bern wünschenswert: «Wenn ein solches Projekt auch in der Berner Community entstehen würde, wäre es wichtig, dass die Stadt Bern hier aktiv mitzieht – das Bedürfnis und die Initiative sollte jedoch aus der Community kommen». Schutzräume und bedürfnisgerechte Räume brauche es nicht nur für aktivistische oder feiernde Gruppen, sondern auch für ältere Menschen, meint Ursina Anderegg: «Wichtig bei solchen Projekten finde ich, dass diese mit den Menschen, die diesen Bedarf haben gemeinsam konzipiert werden, so wie es in Zürich gemacht wurde».

Gerade im letzten Lebensabschnitt werden die Menschen abhängiger von anderen. Hier gilt es besonders hinzuschauen, und zu garantieren, dass queere Menschen weiterhin sich selbst sein können.

Lea Bill

Claude Meier (neu, FDP), Dominic Nellen (neu, SP), Tabea Rai (bisher, AL), Siméon Seiler (neu, GB),
Marcel Wüthrich (bisher, GFL)

 

Seit 2018 umfasst der Auftrag der Fachstelle für die Gleichstellung von Frau und Mann auch die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von LGBTIQ-Menschen in allen Lebensbereichen. Der Aktionsplan 2019 bis 2022 enthält erstmals auch Massnahmen hierzu.

Dass die LGBTIQ-Anliegen in den Auftrag der Fachstelle aufgenommen wurde ist für Timur Akcasayar ein wichtiger Schritt: «Mir fehlen hingegen noch Massnahmen bei den Schulen und bei den religiösen Institutionen und Organisationen».

Marcel Wüthrich pflichtet ihm bei: «Insbesondere in Familien mit wenig aufgeklärtem Gedankengut haben es LGBTIQ-Themen schwer, was den Nährboden für weitere Diskriminierungen bildet». Zudem gilt es die Selbstakzeptanz von queeren Menschen aus solchen Familien zu fördern. Gleichzeitig appelliert er an die Erfahrungen aus der Community selbst: «Sollte im Aktionsplan etwas fehlen, gehe ich davon aus, dass sich die LGBTIQ-Organisationen melden».

Für Nik Eugster wurden viele Lippenbekenntnisse gemacht, grundsätzlich sei beispielsweise der Beitritt der Stadt Bern zum «Rainbow Cities Network» zu begrüssen. Und trotzdem fehlen ihm eine sichtbare Unterstützung der LGBTIQ-Community: «Wo bleibt eine Beflaggung im Pride-Monat? Warum legt Bern Welcome keine Priorität auf queeren Tourismus?». Trotz vieler Konzepte sei die LGBTIQ-Community in der Stadt Bern nicht wirklich sichtbar.

Für Siméon Seiler sind die Ziele und Massnahmen zu heteronormativ, «aber in der Tendenz gut». Und auch für Ursina Anderegg gibt es noch Luft nach oben – etwa in Bezug auf niederschwellige administrative Anpassungen von Vornamens- und Geschlechtseintrag für trans und nicht-binäre Menschen bei städtischen Behörden. Um solche Massnahmen voranzutreiben, müsse die Stadt aber genug Mittel zur Verfügung stellen – aktuell stünden die Zeichen durch die kurzsichtige Sparpolitik des Gemeinderates hierzu nicht gut: «Der Gemeinderat sei bereit, auch bei der Fachstelle für die Gleichstellung zu sparen; wir hoffen, wir können das abwenden».

«Weil die Fachstelle – und damit auch der Aktionsplan – ein so grosses Spektrum abdeckt, fallen auf die einzelnen Bedarfsgruppen immer nur einige wenige Massnahmen», sagt Lea Bill. Somit sei klar, dass damit auch Lücken entstehen – zum Beispiel gebe es keine Massnahmen für ältere queere Menschen. Und für Dominic Nellen ist es nun wichtig, dass all diese Massnahmen konsequent umgesetzt werden, damit der Aktionsplan kein Papiertiger bleibt: «Eine Broschüre der Stadt Bern mit einem Frauenpaar auf dem Titelbild – das wünsche ich mir für das Jahr 2021!».

Es reicht nicht, Ziele in den Legislaturzielen festzuschreiben und an Prides ‘Flagge zu zeigen’. Nun ist es an uns Stadträt*innen Forderungen aufzustellen, welche der Gemeinderat im Rahmen des Aktionsplans umsetzen soll.

Tabea Rai

Die kompletten Antworten der Kandidierenden auf unsere Fragen findest du auf hier: https://habqueerbern.ch/fragen-und-antworten/

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