100 Jahre QueerPop – Teil 2

Die 50er und 60er-Jahre

DJ Ludwigs QueerPop-Histroy: die 50er- und 60er-Jahre. Freche Frauen, die sich nicht an den Herd zurückdrängen liessen, schwule Sänger und lesbische Sängerinnen, die ihre Homosexualität verstecken mussten, um erfolgreich zu sein, und solche, die das nicht taten. Bis 1969 in New York der Stonewall Aufstand ein neues Zeitalter für die LGBT-Community einläutete. Musik, Videos, Geschichten und Bilder von queeren Sänger*innen.

 

 Geheime Liebe und zuckersüsser Kitsch
 Die Tab Hunter Story
 Swinging Sixties – Dusty, Lesley & Long John
 Die etwas anderen Frauen
 Zu queer für diese Zeit – Jackie und Troy
 Joe Meek – zwischen Genie und Wahnsinn
 … und dann passierte Stonewall

Homophil in den 50er-Jahren

Die erste Befreiungsbewegung in den 20er-Jahren (siehe Teil 1), ist nach dem 2. Weltkrieg ins Stocken geraten. Für Homosexuelle waren die 50er-Jahre eine schwierige Zeit. «Schwul» war in den 50ern ein Schimpfwort, das als so schmutzig galt, dass nicht einmal die «Normalen» es benutzten. Schwule und Lesben nannten sich selber damals lieber «anders als die Anderen», «gleichgesinnt» oder «homophil» und man traf sich in «einschlägigen» Lokalen. Es gab durchaus Treffpunkte für Homosexuelle, aber diese — oft fensterlosen — Lokale konnte man nicht einfach so betreten. Um solche Bars zu besuchen, musste man zuerst klingeln und eine Gesichtskontrolle passieren. So wurden ungebetene Gäste, wie Polizeispitzel, ferngehalten . Die Polizei hatte nämlich ein Auge auf die vermeintlich wehrlosen und schwächlichen Homos geworfen und führte regelmässig Razzien durch in solchen Lokalen. Wurde man als homosexuell überführt, musste man mit einer Strafanzeige und einem Gerichtsverfahren rechnen. Im privaten Umfeld drohten Geouteten Erpressung und Jobverlust — mal ganz abgesehen von der Verachtung, mit der sie von Gesellschaft bestraft wurden. Gerichtsfälle zu homosexuellen Straftaten sorgten in der Presse für Schlagzeilen, die dem Volk genüsslich die Verderbtheit dieser «Perversen» vorführten. Damals wurde eine regelrechte Anti-Homo-Propaganda geführt.

Doch nicht alle Homos liessen sich einschüchtern. Einige Mutige gründeten Gruppen, um aufzuklären und ihre eigene Kultur zu erforschen und zu feiern. Sie zogen vor Gericht, um für ihre Rechte zu kämpfen oder schrieben gegen die Ungerechtigkeit an. 1943 wurde in der Schweiz «Der Kreis»[1gegründet, der in den 50er-Jahren zu einer der einflussreichsten schwulen Zeitschriften weltweit wurde. 1948 erschien in Amerika der Kinsey Report «Sexual Behavior in the Human Male»[2], der aufzeigte, das Homosexualität verbreiteter ist als angenommen. Diese und viele andere Ereignisse waren die Grundsteine, die 1969 schliesslich zum Stonewall-Aufstand in New York und zum Aufbau einer Homosexuellenbewegung führten, die unsere Lebensumstände nachhaltig verändern sollte.

Im gesellschaftlichen Umfeld der 50er- und 60er-Jahre, als Sexualität schon per se ein Tabu war, gab es auch in der Unterhaltungsbranche keinen Platz für Schwule und Lesben — zumindest nicht an vorderster Front. In Filmen und in der Musik tauchten sie höchstens als lächerliche oder tragische Randfiguren auf. Der Modeschöpfer, der Frisör oder der Dekorateur wurden effeminiert dargestellt, lesbische Stereotypen hingegen — bis auf ein paar Hosenrollen im Film — tauchten überhaupt nicht auf. In den Musikboxen der «einschlägigen» Lokale waren — wie heute nicht anders — oft weibliche Stars zu finden. Connie Francis war eine besonders populäre Sängerin dieser Generation. Ihr Schlager «Schöner Fremder Mann» sprach die deutschsprachigen Schwulen an und im New Yorker Gay-Club Stonewall Inn wurde jeder Abend abgeschlossen mit «Where The Boys Are». Die deutschen Lesben fuhren damals auf den burschikose Wildfang Rita Pavone und ihren Song «Wenn ich ein Junge wär» ab, (nur den Tino hätten sie nicht küssen wollen). Für hippe, junge Schwule war der Inbegriff der Coolness das Gainsbourg Chanson «Laisser tomber les filles» von France Gall oder irgendein Song von Diana Ross & The Supremes. Das waren Tanzflächenfüller in den versteckten Lokalen der Homos.

Tomboy Rita Pavone tanzt und singt «Viva la pappa col pomodore», 1966

 

So wie heute die Gay-Community an die Konzerte von Madonna, Kylie und Gaga pilgert, waren für unsere Ahnen die Konzerte der grossen Diven ein Ort, wo man auf Gleichgesinnte traf. Sie verehrten Sängerinnen wie Marlene Dietrich, Judy Garland und Edith Piaf, im deutschsprachigen Raum auch Hildegard Knef und Zarah Leander. Um sich vom Pöbel abzugrenzen, bildeten Schwule sich damals etwas ein auf ihre Stilsicherheit. Man trug nur die besten Kleider, trank aus dem edelsten Porzellan, die Möbel mussten antik sein und die wahren Kenner der hohen Kultur bevorzugten die Oper und das Ballett. Der ‹neumodische› Rock’n’Roll, der Mitte der 50er-Jahre von Amerika nach Europa kam, konnte sie nicht begeistern, obwohl dieser massgeblich von Schwulen geprägt wurde. Siehe dazu 1. Teil von 100 Jahre QueerPop.


Zarah Leander singt «Kann denn eine Frau kein Verhältnis haben» live 1971 in Berlin. Es ist tatsächlich die echte Zarah, auch wenn man meinen könnte, es sei eine Dragqueen.

 


Marlene Dietrich singt den Cole Porter Song «I Get A Kick Out of You» live 1972. Die glamouröseste Grossmutter der Welt weiss, wie man einen Auftritt macht. 

 


 

Geheime Liebe und zuckersüsser Kitsch

Während in den 40er- und 50er-Jahren die Afroamerikaner im Untergrund neue aufregende Musikstile kreierten wie Blues, R’n’B und Soul, und mit dem Rock’n’Roll der Jugend ein Instrument in die Hand gaben, mit dem sie sich gegen die Spiessigkeit ihrer Eltern auflehnen konnten, wurde die Musik der weissen Mehrheit immer kitschiger und belangloser. Beliebt waren mit Streichern überzuckerte romantische Balladen, vorgetragen von adretten, harmlose Sängerinnen und Sänger. Die Vorzeigefrau der biederen Fifties war Doris Day. Ausgerechnet ihr haben wir die Gay Hymne «Secret Love» (Video) zu verdanken. Im Film «Calamity Jane» spielte sie eine Hosenrolle und sang als Mann verkleidet dieses Liebeslied an einen Mann.


 


Der Schnulzensänger Johnny Mathis aus San Francisco hatte «Secret Love» ebenfalls in seinem Repertoire. Er wusste aus eigener Erfahrung, was es heisst, seine Liebe geheim zu halten. Als Johnny Mathis 1957 ins Scheinwerferlicht trat, galt er als Frauenschwarm. Er war sehr erfolgreich und verkaufte Millionen Schallplatten. Dass er schwul war, durfte niemand erfahren. 1982 sprach Mathis erstmals öffentlich über seine Homosexualität, was er aber bereute, denn nach dem Outing bekam er vor Konzerten jeweils Morddrohungen. Also schwieg er fortan zu diesem Thema. Erst 2006 sprach er wieder darüber und sagte: «Mit meiner Homosexualität hatte ich keine Probleme und auch keine Angst, deswegen keine Karriere zu machen, denn ich wusste, ich kann singen. Ich ärgerte mich aber, dass meine Homosexualität anderen Probleme machte». (Das Interview mit Jonny Mathis)

 


 

Die Tab Hunter Story

Ein Doppelleben führten in den 50er- und 60er-Jahren einige Sängerinnen und Sänger, die ihre wahre Identität verstecken mussten, um kommerziellen Erfolg zu haben. So war das auch beim Schauspieler und Sänger Tab Hunter.

Tab Hunter war grad 18 geworden und ein sehr attraktiver, blonder, blauäugiger und muskulöser Junge, als er vom Hollywood Agent Henry Willson[31949 entdeckt wurde. Willson hatte ein Auge für «Beefcakes», also scharfe Jungs, und brachte bereits die schönen Männer Rock Hudson und Guy Madison gross raus in der Filmindustrie. Doch Henry Willson war bekannt dafür, dass er sexuelle Gefälligkeiten von seiner (männlichen) Kundschaft verlangte und auch vor Erpressung nicht zurückschreckte um diese einzufordern. Tab Hunter wehrte sich gegen die Avancen — was sich später rächen sollte.

Schon in der Schule wurde der hübsche Junge von den Mädchen umschwärmt. Doch der schüchterne Tab Hunter hatte lieber Pferde, war leidenschaftlicher Eiskunstläufer und stand auf Jungs. Dass sein gutes Aussehen bei Mädchen gut ankommt wusste sein Agent zu nutzen. Willson kurbelte Tabs Karriere damit an, dass er an Magazine freizügige Fotos vom sportlichen Nachwuchsschauspieler verschickte, worauf hin sich Millionen Teenager Mädchen in ihn verliebten, bevor überhaupt der erste Film mit ihm ins Kino kam.

Tab Hunter Fotostroy 01

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Noch vor Tabs Filmdebüt, wurde er bei einer Razzia an einer privaten Gay-Party festgenommen. Sein Agent und der Studioboss konnten den Skandal zwar unter dem Deckel halten, doch Jahre später, als seine Karriere an Fahrt aufnahm, berichtet die Presse dann doch darüber. Die Zeitschrift Confidential drohte 1955 Rock Hundson zu outen, der grad auf dem Höhepunkt seiner Karriere war. Um das zu verhindern ging das Studio einen Deal mit Confidential ein: Ihr könnt über die Verhaftung von Tab Hunter berichten, aber dafür schweigt ihr über Rocks Homosexualität. Der Skandal schien Tab Hunter vorerst nicht gross zu schaden. Vermutlich weil es die Öffentlichkeit für zu absurd hielt, dass dieser sympathische All-American-Boy schwul sein soll. Tab Hunter aber war verstört. Er wusste, dass er schwul ist, überlegte sich trotzdem, eins der Starletts zu heiraten, mit dem ihn das Studio verkuppelte, um das Image als Frauenheld aufrechtzuerhalten. Tab Hunter schrieb in seiner Biografie, dass er das einer Frau — und auch sich selber — nicht antun wollte. Er zeigte sich an Filmpremieren weiterhin mit Frauen, traf aber heimlich Männer. So hatte er eine Beziehung mit dem Eiskunstläufe Ronnie Robertson und mit seinem Schauspielkollege Anthony Perkins. Tony, wie Perkins von Freunden genannt wurde, wurde 1960 mit dem Hitchcock-Film «Psycho» zum Star. Tab und Tony hatten eine stürmische Affäre die fast zwei Jahre dauerte. Doch das Verstecken, die heimlichen Treffen, waren einfach zu anstrengend. Tony heiratet 1970 dann eine Frau und gründete eine Familie. Tab Hunter fand sein Liebesglück erst viel später

Tab Hunter, dessen Erfolg mehr auf seinem guten Aussehen beruhte als den Filmen, in denen mitspielte, und die heute keiner mehr kennt, versuchte sich auch als Sänger. Prompt landete er 1957 einen Nr. 1 Hit mit «Young Love». Übrigens hatte auch Anthony Perkins Schallplatten aufgenommen, wenn auch nicht so erfolgreich wie Tab Hunter.


Tab Hunter singt erstmals live an der Perry Como Show (1957). Was für ein süsses, schüchternes Lächeln – zum dahin schmelzen!

So vergänglich wie die Jugend war auch Tab Hunters Karriere. Als sich die jungen Mädchen anderen Jungs zuwandten bekam Hunter nur noch Nebenrollen in immer schlechteren Filmen. Konsequenterweise landete er 1981 beim «Pope of Trash», dem Kult-Regisseur John Waters. Im Film «Polyester» spielte er den Ehemann von Divine und konnte damit sein Image als Traummann persiflieren. Der Erfolg führte zu einem weiteren Film mit Divine, der Westernkomödie «Lust in the Dust» — und die brachte auch das Liebesglück. Tab Hunter fand seinen Lebenspartner im Filmpoduzent Allan Glaser. Sie blieben 35 Jahre ein Paar. Am 8. Juli 2018, drei Tage vor seinem 87. Geburtstag, starb Hunter nach einem Herzstillstand. Laut Allan kam Tabs Tod «plötzlich und unerwartet».

Buchtipps:

«Tab Hunter Confidential: The Making of a Movie Star»
Eddie Muller und Tab Hunter, 2005

«The man who invented Rock Hudson. The Pretty Boys And Dirty Deals of Henry Willson»
Robert Hofler, 2005

 


 


Swinging Sixties

Mit Dusty Springfield nahm es ein weniger glückliches Ende. Sie zählte damals zu den international erfolgreichsten Sängerinnen, hatte Hit um Hit, und gilt heute noch als Jahrhundertstimme. Doch unter ihrem Lesbischsein hat sie gelitten und wurde depressiv. Mit Alkohol und Pillen versuchte sie die Zerrissenheit eines Doppellebens zu betäuben. Doch auch für sie gab es glückliche Zeiten. Ende der 60er-Jahre hatte sie eine Liebesbeziehung mit der Folk-Sängerin Norma Tanega. Norma hatte 1966 ihren ersten und einzigen Hit mit «Walkin’ My Cat Named Dog» und sie schrieb Texte für Songs von Dusty wie «No Stranger Am I» oder «The Color of Your Eyes». Zudem komponierte sie zusammen mit Jim Council eine wunderbare Liebeserklärung an ihre Partnerin. Das Lied «Dusty Springfield» wurde von der Jazzsängerin Blossom Dearie 1971 aufgenommen.

In den 70er- und 80er-Jahren begann Dusty in Interviews Andeutungen zu machen, dass sie lesbisch ist. Als sie 1987 mit den Pet Shop Boys zusammenarbeitete, war ihre Homosexualität bereits ein offenes Geheimnis. 1999 starb Dusty Springfield an Brustkrebs und bereits 10 Tage nach ihrem Tod wurde sie in die «Rock and Roll Hall of Fame» aufgenommen.


Dusty Springfield singt live einen ihrer grössten Hits: «I Close My Eyes And Count To Ten». Man beachte ihre Gestik, die hat sie bei Dragqueens abgeschaut — die Perücke ebenso.


Auch Lesley Gore war in den 60er-Jahren eine Top-Popsängerin, die ihre Homosexualität heimlich ausleben musste. Lesley Gore wurde von Quincy Jones entdeckt und war zwischen 1963 und 1967 ununterbrochen mit 19 Titeln in den US Billboard Hot 100 vertreten, darunter auch der Song «You Don’t Own Me», der zu einem Feminismus-Klassiker wurde. Doch Lesley Gore hatte bald die Nase voll vom Doppelleben, und so zog sie sich anfangs der 70er-Jahre aus dem Pop-Business zurück. Erst 1980 tauchte sie wieder auf, als Komponistin des Songs «Out Here on My Own»[4für das Filmmusical «Fame». Mit ihrem Bruder schrieb sie auch den Titelsong zum Film und gewann dafür den Oscar. Mit dem Oscar kam auch die Liebe. Mit ihrer Lebenspartnerin, der Schmuckdesignerin Lois Sasson, lebte sie in New York. Mit 68 Jahren erlag Lesley Gore den Folgen einer Lungenkrebserkrankung. In die «Rock and Roll Hall of Fame» wurde sie allerdings bis heute nicht aufgenommen.


Lesley Gore singt «You Don’t Own Me» live 1964


Long John Baldrys ersten Album von 1964

Offensichtlich keine Probleme mit seiner Homosexualität hatte der britische Bluessänger Long John Baldry in den Swingin’ Sixties in London. Er brachte den Blues nach England und erreichte 1967 mit «Let the Heartaches Begin» die Chartsspitze. Der 21-jährige Elton John spielte damals in der Band Bluesology, die Long John Baldry bei Konzerten begleitete. Elton, der sich als 21-Jähriger nach Abenteuer sehnte und von der grossen Solokarriere träumte, erinnert sich in seiner Autobiographie: «Wer das Gefühl hat, sein Leben würde sich zur eintönigen Routine entwickeln, dem kann ich wärmstens empfehlen, mit einem wahnsinnig exzentrischen, zwei Meter grossen, schwulen Bluessänger mit Alkoholproblem auf Tournee zu gehen.» Doch Elton war damals noch jung und naiv; dass John Baldry schwul war, merkte er nicht. «Im Nachhinein kann man sich das kaum vorstellen» schreibt Elton. «Wir sprechen hier immerhin von einem Mann, der sich selbst Ada nannte, der andere Männer als ‹sie› bezeichnete und einem ständig in aller Ausführlichkeit von seinem Sexleben erzählte». Es war denn auch Long John, der Elton die Augen öffnetet über seine eigene Sexualität. Elton bat John nämlich Trauzeuge bei seiner bevorstehenden Hochzeit zu sein. John antwortete ihm, er soll endlich aufwachen und ans andere Ufer schwimmen, «denn du bist schwul!». Die Hochzeit sagte Elton John daraufhin ab, aber mit seinem Coming-out sollte es noch etwas länger dauern. Darüber mehr im dritten Teil von «100 Jahre QueerPop — die 70er-Jahre».

 


 

Die etwas anderen Frauen

Während die Männer im 2. Weltkrieg an der Front waren, sahen zuhause die Frauen nach dem Rechten. Als nach dem Krieg nur noch die Hälfte der Männer zurückkehrte, sorgten die Frauen für den Wiederaufbau. Der Dank der Herren für deren Engagement war, dass sie «das Weibervolk» zurück an den Herd schickten. Die Freiheiten, die die Frauen sich seit den 20er-Jahren erkämpften, gingen vergessen. Doch nicht alle Frauen liessen sich das gefallen! So querdenkende Frauen waren France Faye, Chris Connor, Ruth Wallis, Chavela Vargas und Beverly Shaw.

Frances Faye sagte von sich selbst: «I’m not pretty, but I’m wild». Sie war nicht nur eine wilde und furchtlose Nachtclubsängerin mit einer speziellen Stimme und eine virtuose Pianistin, sie trug auch gerne schräge Frisuren. Bei ihren Clubauftritten hat sie oft über ihre Bisexualität gewitzelt und bei den Songs gerne mal die Pronomen ausgetauscht. Diese Frau war echt cool und wird erst jetzt wiederentdeckt. Eine Empfehlung ist ihr Live-Album «Caught in the Act» von 1959.


Die coole Frances Faye bei einem Fernsehauftritt 1979 in Australien.


A propos cool: Chris Conner war in den 50er-Jahren sehr erfolgreich als Interpretin des Cool Jazz. Sie hatte einen Vertrag bei Atlantic Records und für dieses Label zahlreiche Langspielplatten eingespielt. 1962 verliebte sich Chris Connor in die Barfrau Lori Muscarelle, und sie wurden ein Paar. Dass sie in einer lesbischen Beziehung ist, hat Chris Connor nicht versteckt, und sie machte ihre Liebhaberin auch gleich zu ihrer Managerin. Den Vertrag bei Atlantic löste sie auf. Dass darauf hin ihre Karriere einsackte, hat vermutlich einen homophoben Hintergrund. Es könnte aber auch sein, dass die Barfrau als Managerin nicht besonders talentiert war. In den folgenden Jahrzehnten wechselte sie von Label zu Label und gab Konzerte in kleinen Clubs. Ihre zwei letzten (hörenswerten) Alben nahm Chris in den frühen 2000ern auf. Trotz fehlendem kommerziellem Erfolg blieb sie Lori treu, bis der Tod von Chris sie 2009 schied.


Ruth Wallis Album von 1963

«Königin der Zweideutigkeiten» wurde Ruth Wallis genannt. Ihre Songs waren fürs Radio viel zu gewagt und zu schlüpfrig. Die frivolen Lieder, die sie selbst geschrieben hatte, wurden deshalb von den Radiostationen ignoriert. Und wer kein Airplay bekommt, findet auch keine Plattenfirma; also gründete sie kurzerhand ihre eigene Firma. Dass ein Musiker ein eigenes Label gründet, war damals sehr unüblich, insbesondere für eine Frau. Doch die Selbstständigkeit hat sich für Ruth Wallis gelohnt. Ihre Platten galten als Partykracher, die man sich anhörte, wenn man schon etwas beschwipst ist. Homosexualität war immer wieder Thema in ihren Songs. Zwar machte sie sich darüber lustig, wie sie sich über alles lustig machte, jedoch auf eine versöhnliche Art. In «Queer Things» singt sie darüber, dass ihr Mann einen schwulen Liebhaber hat. Sie kommt zum Schluss:

We have decided it cannot be
I’m not for him and He’s not for me
He can do what he wants and I’ll do what I can
But the both of us
Have gotta get a man

Dieses und weitere schlüpfrige Lieder sind zu finden auf ihrem Greatest-Hits-Album «Boobs», das als Grundlage diente für die Off-Broadway-Show «BOOBS! The Musical: The World According to Ruth Wallis».


Beverly Shaws einziges Album «Songs tailored to your tastes» (ca. 1958)

Beverly Shaw war nicht nur die Besitzerin des chicsten Lesben-Clubs in Hollywood in den Fifties sondern auch der Star auf der Bühne dieses Etablissements. 15 Jahre lang betrieb sie den «Club Laurel», in dem auch Stars aus der Filmbranche verkehrten. Wenn sie auf die Bühne kam, stellte sie sich jeweils vor mit «Miss Beverly Shaw, Sir!». Ganz «Sir» trug sie Anzüge wie ihr Vorbild Marlene Dietrich. Sie hatte ein einziges Album aufgenommen, das heute eine Rarität ist. Es wurde nie auf CD gepresst und ist auch auf keiner Streaming-Plattform zu finden. Aber auf der liebevoll geführten Homepage «Queer Music Heritage» von JD Doyle kann man das Album hören.


Wenn du merkst, dass du anders bist als die andern, musst du Eier haben, um zu dir zu stehen. Besonders dicke hatte Chavela Vargas. 1919 in Costa Rica geboren, kam Vargas mit 17 Jahren nach Mexico und begann professionell zu singen. Mit ihrer tiefen, rauen Stimme interpretierte sie traditionelle mexikanische Rancheras[5], üblicherweise von Männern vorgetragene Lieder über deren Hingabe zu Frauen. Vargas trug auch lieber Panchos als Rüschenröcke, rauchte dicke Zigarren, trank viel Alkohol und trug eine Waffe — eine mexikanische Butch-Lesbe.

Die erste Schallplatte von Chavela Vargas (1961)

1961 nahm sie ihre erste Schallplatte auf, etwa 80 weitere folgten. Sie wurde erfolgreich und traf interessante Menschen, wie beispielsweise Frida Kahlo, mit der sie ein Verhältnis hatte, sang an der Hochzeit von Liz Taylor in Acapulco und soll die Party mit Ava Gardner verlassen haben. Sie führte ein ausschweifendes Leben. Doch der massive Alkoholkonsum wurde zum Problem. Chavela Vargas zog sich Mitte der 70er-Jahre aus dem Musikgeschäft zurück um auszunüchtern — und sie ging vergessen. Der Schweizer Filmproduzent Walter Saxer, ein glühender Fan von Vargas, wollte sie unbedingt als Indianerin für einen Werner Herzog Film verpflichten und machte sich auf die Suche nach der verschollenen Sängerin. 1989 fand er sie verarmt in einem Dorf in Costa Rica. 25’000 Dollar überzeugten die bereits 70-jährige Vargas im Film «Cerro Torre: Schrei aus Stein»[6mitzuspielen. Diese kleine Rolle löste ein erstaunliches Comeback aus. Pedro Almodovar verwendet ihre Songs für seine Filme, sie konnte wieder Platten aufnehmen, gab Konzerte, gewann Preise und wurde zu einer Ikone. Im stolzen Alter von 83 Jahren stand sogar noch ein Debüt an: ihren ersten Auftritt in der renommierten Carnegie Hall in New York.

Mit 81 Jahren äusserte sie sich in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País zu ihrer Homosexualität: «Ich musste kämpfen, um mich selbst zu sein und respektiert zu werden. Ich bin stolz darauf, dieses Stigma zu tragen und mich selbst als Lesbe zu bezeichnen. Ich musste mich der Gesellschaft und der Kirche stellen, die Homosexuelle verdammt. Das ist absurd. Wie kann jemand verurteilt werden, der so geboren wurde? Ich habe keinen Lesbenunterricht besucht. Niemand hat mich gelehrt, so zu sein. Ich wurde auf diese Weise geboren. Ich war so von dem Moment an, als ich meine Augen in dieser Welt öffnete.»


Chavela Vargas singt «llorona» live, ca. 1997. 

 


 

Zu queer für diese Zeit

War ein Sänger, eine Sängerin damals nicht willens, sich anzupassen, die wahre Identität zu verstecken und ein Doppelleben zu führen, war eine erfolgreiche Karriere ausgeschlossen. Da konnte man noch so talentiert sein. Besonders hart war es für Jackie Shane aus Nashville. Sie lebte eine Transidentität, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Mangels besseren Wissens bezeichnete sie sich selbst als homosexuell. Immerhin wurde sie von ihrer Mutter darin unterstützt, ihr weibliches Wesen zu zeigen. Aber im Süden der USA in den 50er/ 60er-Jahren stiess sie auf Unverständnis. 1962 zog sie nach Toronto (Kanada) und wurde dort sofort zur Legende in der noch jungen Musikszene. Jackie konnte ein Album aufnehmen und landet mit «Any Other Way» einen Hit; doch mehr als ein Underground-Star wurde sie nie. Berüchtigt waren ihre energiegeladenen Auftritte. Zuerst noch in Männerklamotten, gab sie sich auf und neben der Bühne immer androgyner. Der Geschlechterfrage wich sie jedoch stets aus. Auch wenn in Toronto ein toleranteres Klima herrschte als in Nashville, war Homosexualität auch dort eine Straftat, und man war Jahrzehnte davon entfernt, Transidentität anzuerkennen. Anfangs der 70er-Jahre zog sie sich zurück und pflegte ihre kranke Mutter. Nach dem Tod ihrer Mutter ist sie von der Bildfläche verschwunden. Es wurde getratscht, sie habe Selbstmord begangen oder wurde gar ermordet.

Mit diesem Album wurde Jackie Shane aus der Vergessenheit geholt.

In Wahrheit lebte sie ein ruhiges Leben, zurück in ihrer Heimat Nashville. Jackie Shane wurde aber nicht vergessen. Als klar wurde, dass sie nicht gestorben ist, versuchten Musiker und Journalisten immer wieder, sie zu kontaktieren, um sie «wiederzubeleben». Davon hielt Jackie nichts. Meistens antwortete sie nicht einmal auf Anfragen. 2014 gelang es einem Mitarbeiter des Labels Numero Group, sie zu erreichen und er konnte mit ihr eine telefonische Freundschaft aufbauen — ein persönliches Treffen hat sie immer ausgeschlagen. Das Label erhielt die Erlaubnis, ihr Studioalbum und die bemerkenswerten Live-Aufnahmen wieder zu veröffentlichen. Der CD «Any Other Way» legten sie ein ausführliches Booklet bei, in dem sie die Geschichte von Jackie Shane erzählten. Als sie davon hörte, wie erfolgreich dieses Album wurde, reagierte sie emotional: «Ich dachte, man hätte mich vergessen. Aber ich war es nicht. Es zeigt, dass ich das alles nicht umsonst getan habe. Ich war es wirklich wert. Dass die Leute das zu schätzen wissen, ist eine schöne Sache.»

 


 


 

So eine Wiederentdeckunghatte Troy Walker noch nicht erlebt. Als Teenager haute Troy Walker, der 1938 in Arizona geboren wurde, von zuhause ab nach Hollywood, um dort sein Glück zu versuchen — und landet erstmal auf dem Strich. Sein Gesangstalent und sein freches Mundwerk holten ihn aus der Prostitution raus. 1958 wurde er in einem Nachtclub als Sänger und Entertainer engagiert. Der exzentrische junge Mann kam beim Publikum gut an, auch wenn seine offene und ehrliche Art einige schockierte. Seine Auftritte eröffnete er jeweils mit diesen Worten: «My name’s Troy Walker and whatever you’re thinking, you’re right. Mommy wanted a girl, Daddy wanted a boy, now they’re both happy.»

Troy Walkers Live-Album von 1959

Er konnte singen, sah gut aus und war unterhaltsam. Für den talentierten Sänger stand einer Karriere als Popstar nichts im Weg — ausser sein rebellisches Wesen. Bei der Plattenfirma, die ihn unter Vertrag nehmen wollte, bestand er darauf, «Happiness Is Just a Thing Called Joe» zu singen und weigerte sich, Songs aufzunehmen, die nicht seiner Persönlichkeit entsprachen. Er wollte sich nicht verbiegen lassen, wollte sich selber treu bleiben. Das verhinderte zwar kommerziellen Erfolg, aber nicht seinen Tatendrang. Bis heute ist er aktiv als Sänger und Comedian. «Ich habe mich oft gefragt, warum der grosse Karriere-Schub ausblieb», reflektierte er in einem Interview. «Ich glaube, niemand wollte sich damals mit einem etwas affektierten, weiblichen Mann in Verbindung bringen. So war die Zeit damals.»

 


 

Joe Meek – zwischen Genie und Wahnsinn

Es gab in den 60er-Jahren einige schwule Musikproduzenten und Manager wie beispielsweise der Beatles-Entdecker Brian Epstein oder Robert Stigwood, der die Bee Gees gross machte und das Musical «Hair» produzierte. Ein Pionier auf seinem Gebiet war der britische Musikproduzent Joe Meek. Er pendelte zwischen Genie und Wahnsinn, wobei am Schluss der Wahnsinn Überhand nahm.

Der 1929 geborene Joe Meek war schon als Kind ein Technikfreak. Er machte eine Ausbildung zum Toningenieur und bastelte nebenbei an neuen Aufnahmegeräten und experimentierte mit ihnen. Bereits seine erste Musikproduktion, die durch seine neuartige Tonabmischung auffiel — mit Verzerrungen und viel Hall — wurde ein Hit. 1960 gründete er seine eigene Plattenfirma «Triumph Records» und konnte einige Charts Erfolge mit seinem modernen, technischen Sound verbuchen. Doch neben Plagiatsvorwürfen, seiner Amphetaminsucht und seiner Besessenheit von seinem Schützling, dem Sänger Heinz, wurde er wegen seiner Homosexualität auch noch erpresst. Er verschanzte sich in seiner Wohnung, die er zum Tonstudio umgebaut hatte, und tüftelte an neuen Sounds. Langsam wurde aus seiner Genialität Wahnsinn, und es kam 1967 zu einem tragischen Ende. Im Wahn erschoss er mit einer Schrotflinte seine Vermieterin und anschliessend sich selbst. In Erinnerung bleiben werden Hits wie «Johnny, Remember Me» von John Lyton und «Telstar» von den Tornados.


Heinz singt im Film «Live it Up» von 1963 einen Song von Joe Meek.

 


 

… und dann passierte Stonewall

Selbsthass, Angst, Drogensucht und auch Selbstmord waren in den 50er- und 60er-Jahren nicht nur bei queeren Musiker*verbreitet. Alle Schwulen, Lesben, Bi und Trans wurden von der Gesellschaft als kriminell und pervers abgestempelt, was das Selbstwertgefühl erheblich beschädigte. Doch langsam hatten sie die Schnauze voll von dieser ewigen Diskriminierung und Unterdrückung. Sie sahen, wie sich ab Mitte der 60er die Frauen emanzipierten, wie die Afroamerikaner für ihre Bürgerrechte kämpften, wie die Hippies gegen den Vietnamkrieg protestierten und die sexuelle Befreiung propagierten, und es dämmerte ihnen, dass es jetzt an der Zeit ist, auf sich aufmerksam zu machen und die Rechte einzufordern, die ihnen zustehen. Als am 28. Juni 1969 vor dem Stonewall Inn in New York eine Dragqueen den ersten Stein gegen die Polizei warf, die — wie schon so oft — eine gewalttätige Razzia durchführte, war das die Initialzündung, die endlich zu einer tatkräftigen LGBT-Bürgerrechtsbewegung führte, die auch tatsächlich etwas zu bewirken vermochte.

Mehr dazu, wie Schwule, Lesben, Bi und Trans in den 70er-Jahren für Gleichberechtigung kämpften, und wie sie dabei von Musikerinnen und Musikern unterstützt wurden, kannst du im 3. Teil von 100 Jahre QueerPop lesen. Du erfährst, welche Popstars damals ein mutiges Coming-out wagten und welche es lieber — obwohl offensichtlich — geheim hielten; wie Discomusik das queere Lebensgefühl massentauglich machte und wie sich Homo-Musiker*innen selbstständig machten. Du hörst Lieder, in denen auf die Sorgen und Nöten von Homosexuellen eingegangen wurde, und solche, die für die Akzeptanz und die Rechte von Homos kämpften.


DJ LUDWIGS PLAYLIST

Mit den Sänger*innen und Songs aus dem Artikel und vielen mehr.


Die Sendung «Perlen Aus Ludwigs Plattenkiste»

Vom 6. September auf QueerUp Radio.
100 Jahre QueerPop – die 50er und 60er-Jahre
Mit ein paar Songs, die nicht auf der Spotify Playliste zu finden sind und Kommentaren von Ludwig



 

 

 

 

 

Kommentare
  1. Moël sagt

    Spannendi Schtund gsy, Merci Ludwig

Kommentar

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