Das Leben schwuler Männer im New York der 70er-Jahre

Die Polaroids von Tom Bianchi

Nach dem Stonewall-Aufstand wurde New York zum Eldorado für schwule Männer. «Wir hatten damals die bestmögliche Zeit», erinnert sich der Fotograf Tom Bianchi. «Ich will, dass die Welt weiss, was gewesen war, weil ich will, dass die Welt das Gefühl des Verlustes spürt, das ich fühle.»

Nach dem Stonewall-Aufstand im Jahr 1969 begann für Schwule ein neues Zeitalter. Besonders in New York erblühte in den 70er-Jahren das Gay-Life. Dieses neue Lebensgefühl wurde nicht nur vom politischen Kampf für Gleichberechtigung getragen, sondern auch von der Libido. Mittendrin in dieser neuen, bunten, schwulen und vor allem sexy Welt der Fotograf Tom Bianchi, der diese Zeit mit seiner Polaroidkamera festgehalten hat. Tom Bianchi hat sich und seine Freunde und Liebhaber in seiner Wohnung im Herzen von Greenwich Village fotografiert – oder in den Fire Island Pines, wo sich bis heute die Gays im Sommer treffen. Seine Fotografien bieten einen intimen Einblick in das Leben schwuler Männer im New York der 1970er-Jahre, die plötzlich frei waren, ihre Sexualität zu ihren eigenen Bedingungen zu entdecken und zu feiern. «Vor Stonewall glaubten wir, allein auf der Welt zu sein und dazu bestimmt, ein einsames Leben zu führen. In New York, nach Stonewall, gab es eine Bewusstseinsverschiebung von Verzweiflung zu Freude, und wir haben sie angenommen», erzählt Bianchi.

Before Stonewall, we really didn’t know if we were alone in the world and felt destined to live a lonely life. In New York, post-Stonewall, there was a shift in consciousness from despair to joy and we embraced it.
Tom Bianchi

Fotos aus dem Buch «63 E 9th Street | NYC Polaroids 1975 – 1989»


 

Von der Provinz in die Grossstadt

Tom Bianchi wurde 1945 in Illinos geboren. Er wäre gerne Künstler geworden, doch sein alkoholkranker und gewalttätiger Vater hat ihm diesen Wunsch mit Prügel ausgetrieben. Als schwuler Teenager in der Pubertät entdeckte er die «Beefcake Magazine». Diese Zeitschriften huldigten den Körpern junger, muskulöser Männern. Diese Fotografien haben ihn geprägt und wurden zu seiner Fantasie, wie ein sexuell attraktiver Mann auszusehen hat. Wie die meisten schwulen Männer, die wie Tom Bianchi von der tristen Provinz ins pulsierende Grosstadtleben eintauchten, waren sie diejenigen Kinder, die im Sportunterricht immer als letzte in die Mannschaft gewählt wurden, weil sie nicht so gut waren wie die anderen. In New York hat sich alles umgedreht. Jetzt waren es diese Ausgestossenen, welche die Fitnessstudios stürmten, um ihre Körper ihrem Ideal anzupassen, und lösten damit den Fitnesstrend aus. In den Clubs zeigten sie beim Tanzen ihre gestählten Körper zur neuen Musik – die sich Disco nennt – und lösten damit die weltweite Discowelle aus. Was heute Mainstream ist, war damals Subkultur. Diese neue Gay-Culture hat Tom Bianchi mit seiner Polaroid SX-70-Kamera dokumentiert. «Die Fotos in den Beefcake Magazines unterlagen der Zensur, aber die Polaroids erlaubten mir, mit Volldampf voranzukommen. Ich konnte tun, was ich wollte, und niemand konnte mich aufhalten», erzählt Bianchi. «Ich wollte meine Fantasien ausleben, die ich in meiner Jugend hatte.» Da die Fotos nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, musste er sich auch keine Gedanken darüber machen, ob sie jemanden verstören könnten. Die Wohnung in Greenwich Village wurde zu einem Ort, an dem Bianchi den Künstler entdeckte, der er immer war. Er konnte seine Bilder zwar an Gruppenausstellungen und sogar an einer Einzelausstellung zeigen, doch ohne grossen Erfolg. «Ich hoffte, die Polaroids könnten meine Karriere als Maler finanzieren. Wie sich herausstellte, haben sie das nicht getan.»

I think a lot of gay people, like myself, saw ourselves as the kid who got picked last for the sports team during gym and not as good as other boys. Suddenly, we flipped that and became our own fantasies for one another.
Tom Bianchi

Fotos aus dem Buch «Fire Island Pines | Polaroids 1975 – 1983»

 

Rückblick auf eine «unschuldige» Zeit

Der damals 35-jährige Bianchi kündigte seine Festanstellung, um sich auf seine Kunst zu konzentrieren. Obwohl er die Polaroids erst Jahrzehnte nach ihrer Herstellung veröffentlichte, arbeitete Bianchi weiter, entschlossen, die frühen Tage der queeren Revolution vor dem Aufkommen von AIDS zu dokumentieren. «Wir waren unschuldig. Wir haben uns gegenseitig bei Herzschmerzen getröstet, denn, während wir zwar viel Sex hatten, waren wir doch alle ziemlich auf die Idee der wahren Liebe fixiert. Wenn wir nicht grad unter Liebeskummer litten, hatten wir damals jedoch die bestmögliche Zeit», erinnert sich Bianchi. Doch dann kam AIDS. «Ich sehe mir diese Polaroids an und so viele dieser Leute sind weg. Ich hatte persönlich Erfahrungen mit Krankenhäusern und Sterbebettszenen gemacht. Es war eine atemraubende Veränderung. Wenn ich zurückblicke, wird mir klar, dass ich nicht will, dass wir verschwinden. Ich will, dass die Welt weiss, was gewesen war, weil ich will, dass die Welt das Gefühl des Verlustes spürt, das ich fühle.»

Dank Tom Bianchi Polaroids können wir in diese «unschuldige» Zeit zurückschauen. Wir können in ihnen die Welt erkennen, die sich unsere schwulen Vorfahren erträumt haben und die sie teilweise auch wahr gemacht haben. Die Fotos zeigen den Anfang der Gay-Culture, wie sie heute noch das Bild prägt, das wir von uns haben und das wir gerne nach aussen tragen. Auch wenn man beim Betrachten der Polaroids glaubt, es seien damals paradiesische Zustände gewesen, muss doch auch festgehalten werden: Dieser Hedonismus schloss Schwule aus, die nicht den perfekten Körper hatten, die nicht dem neuen Gay-Mainstream folgen wollten. Die Aidskrise nach dieser ersten Glanzzeit, unser Kampf für die Entkriminalisierung von Homosexualität, für gleiche Rechte, für gleichgeschlechtliche Ehe und für mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft, haben uns gezeigt, dass es ein schwules Eldorado nicht gibt und auch nicht geben sollte – sondern, dass nur ein Miteinander, das alle umfasst, eine Welt ist, in der wirklich paradiesische Zustände herrschen. Dennoch: die Polaroids von Tom Bianchi wecken die Sehnsucht nach einer unbeschwerten Zeit.


Von Tom Bianchi sind zwei Fotobände erschienen:


63 E 9th Street | NYC Polaroids 1975 – 1989
Hier erhältlich


Fire Island Pines | Polaroids 1975 – 1983
Hier erhältlich


Homepage von Tom Bianchi
https://www.tombianchi.com

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