Mutiges Coming-out am Samstagmorgen

Der Schwinger Curdin Orlik ist schwul

«Das Magazin» verkündete ein mutiges Coming-out: Der Schwinger Curdin Orlik ist schwul. Der Artikel weckte beim bern.lgbt-Autor Ludwig Erinnerungen an sein eigens Coming-out. Er findet Gemeinsamkeiten aber auch grosse Unterschiede.

Samstagmorgen beginnt bei mir mit Kaffee, Brot mit Konfitüre und Tagi-Magi. Diesen Samstag war die Lektüre der Wochenendbeilage «Das Magazin» meiner Tageszeitung «Der Bund» besonders erfreulich dank des Artikels über das Coming-out des aktiven Schwingers Curdin Orlik. Der Journalist Christoph Gertsch verhilft dem Topsportler zu einem würdevollen und selbstbestimmten öffentlichen Coming-out. Menschen, die selbst nie das Gefühl erfahren haben, in den Augen der Anderen eine falsche Sexualität zu haben, werden nach der Lektüre vielleicht besser verstehen, wieso die Hürde eines Outings so hoch ist. Und wer selbst ein Coming-out hatte, wird sich darin wiederfinden. In mir hat der Artikel Erinnerungen an meine eigenes geweckt.

Die Meldung, dass der Schwinger Curdin Orlik schwul ist, ist schon eine ziemliche Sensation, denn er ist nicht nur der erster Schwinger sondern sogar der erste aktive männliche Topsportler in der Schweiz überhaupt, der zu seiner Liebe zu Männern steht, und das in einer sehr traditionellen von Männern dominierten Sportart wie dem Schwingen. Respekt, Curdin! Respekt zolle ich auch dem Autor, der aus dem Outing kein Sensationsartikel macht, sondern ein einfühlsames Porträt, eine mutige Coming-out-Geschichte schreibt.

Curdin macht sein Coming Out heute mit 27 Jahren. Ich hatte meins schon als 17-Jähriger und das ist mehr als dreissig Jahre her! Und doch erkannte ich mich in der Geschichte von Curdin wieder. Was der Schwinger dem Journalisten Christoph Gertsch erzählt, sind Anekdoten, die fast jeder Schwule kennt. Beispielsweise, dass er als Kinder am liebsten mit den Mädchen aus der Nachbarschaft spielte. Eine Nachbarin meinte dazu, der werde bestimmt mal den Frauen nachlaufen. «Wenn jemand in der Schule einen Schwulenwitz erzählte, lachte er, um nicht aufzufallen, erzählte Curdin. Er brauchte das Wort nur zu hören, schon raste sein Puls, und er fürchtete, rot anzulaufen. Er schämte sich für das Versteckspiel und wusste doch nicht, wie er es beenden sollte», schreibt Gertsch.

Als ich das las, hatte ich ein Flashback. Mich nannten sie damals Casanova, weil ich ständig bei den Mädchen war. «Wenn die wüssten!» dachte ich. Ich war ja nicht mit ihnen zusammen, weil ich sie verführen wollte, sondern weil ich mich ihnen näher fühlte. Mit ihnen konnte ich über Popstars tratschen, statt über Fussball. Ich war als Pubertierender ein frecher Provokateur und kokettierte gerne mit meiner Andersartigkeit. Wer damals nicht checkte, dass ich schwul bin, musste Tomaten auf den Augen gehabt haben. Oder, was wahrscheinlicher ist, keine Ahnung, dass es so was wie Homosexualität überhaupt gibt.

Gertsch schreibt im Artikel: «Wenn Curdin Orlik heute an seine Jugendzeit zurückdenkt, kann er kein einschneidendes Erlebnis benennen, das ihn daran gehindert hätte, sich zu öffnen. Es wurden keine Schwulen verprügelt im Dorf. Was ihn schmerzte, war vielmehr die komplette Abwesenheit des Themas. In der Schule, in der Kirche, auch im Schwingen schien es eine stille Übereinkunft zu geben, dass für Schwule kein Platz ist. Die Ablehnung war unausgesprochen und dadurch unangreifbar.»

Was ihn schmerzte, war die komplette Abwesenheit des Themas. In der Schule, in der Kirche, auch im Schwingen schien es eine stille Übereinkunft zu geben, dass für Schwule kein Platz ist. Die Ablehnung war unausgesprochen und dadurch unangreifbar.

Diese ‹komplette Abwesenheit des Themas› kannte ich auch, dieses ‹nicht darüber sprechen› ist wie eine unsichtbare Hürde, die man nicht überwinden kann. Doch ich habe darauf anders reagiert als Curdin. Ich machte es zu meinem Thema. Ich las Bücher und Zeitschriften, hörte Musik, schaute Filme und Fernsehen, immer auf der Suche nach dem Thema Homosexualität. Ich informierte mich, was mich selbstbewusster machte, und so bereitete ich mich – nicht wissentlich, sondern instinktiv – auf mein Coming-out vor. Ich gab mich schwul, bevor ich mich als schwul geoutet habe. So konnte ich die Hürde etwas senken.

Für Curdin blieb die Hürde zu hoch. Er spielte denn Hetero. Er brachte Freundinnen nach Hause, vertiefte sich in seinen Sport und lebt das, was von ihm erwartet wurde. «Im Sport wurde er immer besser, doch ihm ging es immer schlechter.» Er suchte in Kontaktanzeigen nach Schwulen und manchmal traf er sich auch mit einem. Es waren keine guten Erlebnisse. «Ich fühlte mich missbraucht. Ich dachte, wenn Schwulsein bedeutet, dass es einem so elend geht, ist das nichts für mich. Gute Schwule kennen zu lernen, ist doppelt schwer, wenn man sein Schwulsein versteckt hält. Du bist wehrlos, weil immer die Angst mitschwingt, dass du auffliegst», erzählte er dem Journalisten.

Wäre es für Curdin besser gelaufen, wenn er sich damals verliebt hätte? Mir jedenfalls half es. Denn wenn man verliebt ist, erkennt man, dass das nicht falsch sein kann. Ich hatte auch Glück und traf tolle schwule Jungs, nicht unbedingt Sexpartner, sondern Freunde. Ich fühlte mich angenommen und angekommen. Bei mir lief das Coming-out – und das war noch in den 80er-Jahren! – wie es heute zum Glück bei den meisten abläuft und wie es bei allen sein sollte. Während dem Erwachsenwerden lernt man, erst sich selber zu akzeptieren als homosexuell, öffnet sich dann gegenüber seinen Nächsten, wird von diesen akzeptiert um dann zum stolzen schwulen Mann zu reifen. Während der Schulzeit habe ich es nicht gewagt, mich zu outen. Doch sobald ich aus der Schule raus war, kam ich auch als Schwuler raus. Ich war offen schwul, als ich meine Lehre begann und lebte damit seither befreit und zufrieden.

Doch bei Curdin lief das nicht so ring wie bei mir. «Mit wem hätte ich über schlechte Erfahrungen reden sollen?» fragt Curdin, «Ich war allein. Es klingt vielleicht blöd, aber ich schloss daraus, dass ich wieder eine Freundin brauche.» Curdin zog nach Bern um Agronomie zu studieren, kam mit einer Frau zusammen und sie wurden 2016 Eltern. «Jetzt musst du das durchziehen» redete er sich ein. Gertsch schreibt: «Er war jetzt Schwinger, Student und Vater, […] er war überall und nirgends, musste so viel Widersprüchliches vereinen. Aber es ging nicht. ‹Ich merkte, so kann es nicht ein Leben lang bleiben.› Im Sommer 2017 zog Curdin Orlik aus der gemeinsamen Wohnung aus, zwei Wochen vor dem Unspunnen-Schwinget, dem Fest, das ihn auf einen Schlag bekannt machen sollte. […] Wenig später trennte er sich endgültig von seiner Partnerin, erzählte ihr alles: dass er sie wahnsinnig gernhabe, dass etwas aber fehle.» Ein erster Schritt ist gemacht. Er öffnete sich auch gegenüber Familie und Freunden. «Jedes Mal hatte er Angst, zurückgewiesen zu werden. Doch jedes Mal fühlte er sich danach ein wenig befreiter.»

Für Curdin war das Coming out gegenüber seiner Mutter eine besonders hohe Hürde. Aber wie meine Mutter, ist auch die von Curdin nicht auf den Kopf gefallen. Als er sich mit ihr in einem Restaurant in Bern traf, um ihr ‹etwas zu sagen› und nicht wusste wie, fragte sie in direkt: «Curdin, bist du schwul?». Meine Mutter machte es etwas subtiler, reichte mir ein Heft zum Thema Homosexualität und fragte, ob mich das interessiere? Der Journalist beschreibt dann einen Dialog am Esszimmertisch der Familie, der auch in meinem Elternhaus stattgefunden haben könnte. Für die Mutter machte das Sinn, weil sie ihren Sohn jetzt richtig einordnen kann, der Vater fiel aus allen Wolken, weil er das nie gedacht hätte, kann es jetzt aber akzeptieren.

Das Outing im nahen Umfeld hat er geschafft. Wie weiter? Sich als prominenter Sportler zu outen, ist auch heute noch sehr schwierig. Und ist das überhaupt nötig? Im persönlichen Umgang haben bestimmt die meisten Schwinger kein Problem mit Schwulen. Aber darüber reden? Es «an die grosse Glocke hängen»?

«Genau diese Verklemmtheit und Sprachlosigkeit wollte Curdin Orlik durchbrechen», schreibt Gertsch. «Er ist kein Wichtigtuer, im Gegenteil, er fragte sich lange, ob ein öffentliches Outing überhaupt nötig sei. Ehe er sich ans Magazin wandte, gab es unter Curdin Orliks Vertrauten die Überlegung, in einem unverfänglichen Interview über das Schwingen beiläufig eine Bemerkung fallen zu lassen. ‹Als wäre es das Normalste der Welt›, wie er sagt. Dass er es nun trotzdem anders macht, begründet er so: ‹In der Welt, aus der ich komme, wird Schwulsein eben nicht als das Normalste der Welt betrachtet›.»

Ich bin bereits seit über 30 Jahren geoutet. Das erste Outing ist sicher das schwerste. Aber es kommt immer wieder zu Outings im Alltag. «Nehmen sie doch ihrer Frau mit», wird einen bei einer Einladung gesagt oder gefragt: «Haben sie auch Kinder?» Sag ich jetzt frech, dass mein Mann keine Gebärmutter hat? Manchmal sage ich nichts, manchmal einfach «Nein, ich bin schwul, aber ich nehme meine Partner gerne mit». Meistens halte ich mich an die Strategie es nebenbei in einem Gespräch mit Leuten, die ich neu kennenlerne, zu erwähnen. So im Stil «… als ich mit meinem Partner in Italien war …». Sollen sie doch selbst ihre Schlüsse ziehen!

Curdin hat die Gelassenheit, die ich inzwischen als langzeit geouteter Schwuler erreicht habe, noch nicht. Gertsch beschreibt Curdins Situation so: «Die Kollegen im Verein und bei der Arbeit liess er im Glauben, er sei ein Frauenschwarm. Wenn sie fragten: ‹Hast du heute wieder ein Date mit einer schönen Frau?›, verneinte er es nicht, obwohl er sich nun mit Männern traf. Er liebte seinen Sport, und er liebte Männer. Er glaubte einfach nicht, dass sich beides vereinbaren lässt, eine Karriere als Schwinger und ein heimliches Leben als Schwuler. Das eine, dachte er, schliesse das andere aus. Er sah nur einen Ausweg: sich öffentlich zu outen.»

Lieber bin ich frei als ängstlich.

Curdin hat lang überlegt, am Ende ist die Antwort stets dieselbe: «Lieber bin ich frei als ängstlich. Viel zu lange habe ich verdrängt, wer ich wirklich bin. Ich tue das auch für meinen Sohn, ihn will ich auf gar keinen Fall anlügen. Ich hätte mir gewünscht, bereits als Kind zu erfahren, dass es viele verschiedene Lebensformen gibt und dass jede in Ordnung ist. Aber so war es nicht. In der Familie, in der Schule, in meinem ganzen Umfeld war Schwulsein etwas Verschwommenes, Unsichtbares.»

Lieber Curdin, danke für dein mutiges und wichtiges Outing. Ich wünschen dir nur das Beste und hoffen, dass deine Offenheit auch bei den Schwingern und ihren Fans gut aufgenommen wird und falls es doch zu unschönen Begegnungen kommen sollte, wünsche ich dir viel Kraft diese zu bodigen.

Deine Wünsche sind genau die, für die sich so viele in der LGBTQ-Comunity täglich einsetzten. Vereine wie ABQ besuchen Schulen, damit das Thema Homosexualität dort nicht tabuisiert wird. Wir haben Vereine und Organisationen die jungen und auch älteren Menschen beim Coming-out helfen. Wir engagieren uns politisch, damit wir die gleichen Rechte erhalte wie alle anderen und wir schaffen uns Räume, in denen wir uns sicher fühlen, in denen wir feiern, reden und einfach eine gute Zeit habe können. Wir sind viele und wir freuen uns, einen starken und mutigen Mann wie dich an unserer Seite zu wissen.


Brauchst du Unterstützung beim Coming-Out?

Hier kannst du dich melden:

hab-Beratung habqueerbern.ch/beratung/
LGBT+ Helpline www.lgbt-helpline.ch

Für Jugendliche:
Du-bist-Du www.du-bist-du.ch
Milchjugend www.milchjugend.ch

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